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Irina Lorez

Unser Publikum des Tanzes

(Bild: Chantal Kaufmann)

Es gab die Zeit um die 80er Jahre, in der wir möglichst Sperriges, Schräges, Auffallendes, Lautes und Nacktes auf die Bühne brachten, um das Publikum zu schockieren. Doch heute können wir das Publikum längst nicht mehr schockieren. Was sagen Tanzbesucher dazu?

Es gab die Zeit um die 80er Jahre, in der wir möglichst Sperriges, Schräges, Auffallendes, Lautes und Nacktes auf die Bühne brachten, um das Publikum zu schockieren und in unseren Bann zu reissen. Oder wir hingen eine Stunde kopfvoran von der Decke hinunter oder standen eine Ewigkeit einfach da, ohne etwas zu tun. Die ganz Mutigen traten mit bissigen Hunden zum Kampftanz auf, bis am Ende alle auf die Bühne pissten. Es war Rebellion pur gegen die Spiessbürgerlichkeit und die Einöde der Gesellschaft. Es war die Umsetzung davon, was wir auf den Strassen sahen und erlebten. Und die Menschen kamen voller Neugierde und schauten uns zu.

In welcher Bewegung sind wir heute? In der Wohlstandsbewegung? Sättigkeitsbewegung oder in der Ich-Bewegung? Wenn das Publikum vermehrt Teil des Geschehens ist (nach Joseph Beuys ist jeder ein Künstler), interaktiv einbezogen wird, warum sollte es dann noch Eintritt bezahlen, um nur zuzuschauen? Oder ist die Konkurrenz einfach zu gross und die Namen verschwinden so schnell, wie sie erschienen sind?

Besucherzahlen vor Inhalt

Noch fliessen die Gelder in die Tanzförderung. Noch sind Institutionen subventioniert. Die Politiker interessieren sich weniger für den Inhalt als für die Anzahl der Zuschauer, denn wo Geld fliesst, muss auch Rechenschaft abgelegt werden. Die Veranstalter stehen im Clinch, der Druck ist hoch, die Anforderungen kaum unter einen Hut zu kriegen. Doch was machen sie? Das Kopflastige auf die Bühne bringen, dass nur derjenige, der es versteht, der Superschlaue ist. Die Anderen sind altbacken, nicht klug genug und spiessbürgerlich. Wer möchte noch zu diesem Publikum gehören?

Ich lese einen Pressetext und finde, das klingt spannend, vielversprechend, grossartig, brilliant, hochkarätig etc., aber wie oft verlasse ich das Theater und bin nicht berührt? Will man denn das Publikum verjagen? Klar, Mainstream ist nicht cool, aber was wenn die Ankündigung nur ein reisserischer Text bleibt?

Man könnte mehr

Längst können wir das Publikum nicht mehr schockieren. Die Selbstdarstellung auf der Bühne ist auch ausgeschöpft. Was fortlebt, so romantisch es klingt, ist die emotionale Bewegtheit.

 

Ich befrage drei Zuschauer unseres Tanzpublikums:

Claudius Bisig (50 plus), Grafiker, Luzern

Claudius, du bist ein oft gesehener Zuschauer von Tanzveranstaltungen in Luzern. Was magst du am Tanz?

«Ich sehe gerne den Bewegungsabläufen zu und lasse mich vom Ausdruck der Tänzer berühren. Ich mag Ausdruck jeder Art, vor allem sprechen mich abstrakte und zeitgenössische Stücke an. Klassisches Ballett interessiert mich nicht.»

Bevorzugst du einen besonderen Ort für Tanz?

«Nein, der Ort und die Häuser spielen für mich keine Rolle. Ich sehe mir einfach gerne Tanz an, wo auch immer. Er inspiriert mich und gibt mir und meiner Frau viel Gesprächsstoff.»

 

Bettina Glaus (35 plus), Theaterregisseurin, Luzern

Bettina, warum schaust du dir Tanzvorstellungen an?

«Warum zu Hause – wenn ich Zeit habe – vor dem Fernseher sitzen, wenn ich für wenig Geld etwas erleben kann?»

Wie triffst du deine Auswahl? Durch Pressetexte?

«Nicht zwingend, aber wenn mich die Texte nicht ansprechen, gehe ich nicht hin. Für mich ist die Bildästhetik viel entscheidender als ein Pressetext. Und ich möchte auch nicht lange Einführungen und Vorträge hören, um etwas zu verstehen. Ich will es sehen.»

Hast du schon einmal enttäuscht das Theater verlassen?

«Enttäuscht nicht, da ich nichts erwarte. Es kann vorkommen, dass ich das Theater mit einem Fragezeichen verlasse. Was mich aber frustriert, ist eine zweistündige Vorstellung, die ich einen totalen ‹Chabis› finde. Dann reut mich meine Zeit.»

Spielt für dich der Eintrittspreis eine grosse Rolle?

«Nun ja, ich bin viel offener für Experimente, wenn ich 15 Franken bezahle als 30 Franken.»

 

Anik Auer (25 plus), Medizinische Masseurin und Tänzerin, Luzern

Anik, wie oft gehst du an Tanzveranstaltungen und wohin?

«Ich schaue mir alle Tanzabende am Luzerner Theater an. Wenn ich Zeit hätte, würde ich noch mehr Tanz sehen.»

Warum nur im Luzerner Theater?

«Ich weiss nicht so recht, vielleicht weil ihre Werbung überall so präsent ist und sie mich sehr anspricht.»

Was am Tanz berührt dich besonders?

«Ich mag es sehr, wenn Beziehungen unter den Tänzern entstehen, wenn sich ganz langsam etwas aufbaut, wenn Bewegung, Musik und Licht dann plötzlich aufeinandertreffen. Damit es mich emotional so richtig mitnimmt, muss das Stück mit meinem Leben zu tun haben. Wie in einem Buch oder in einem Film möchte ich mich mit etwas identifizieren. Doch ich bin für Neues immer offen.»

Du tanzt selber auf der Bühne. Wie gehst du mit Kritik des Publikums um?

«Sehr gut, ich brauche sie sogar, damit ich wahrgenommen werde. Es kommt jedoch sehr darauf an, wer sie sagt und wie sie gesagt wird. Egal, ob negativ oder positiv, ich brauche die genauen Argumente. ‹Das war super›, reicht mir nicht.»

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