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Warum das Luzerner Ausflugsziel lange gefürchtet wurde

Der Pilatus – vom düsteren Gipfel zum freundlichen Hausberg

(Bild: Armin Graessl/AURA)

Wer heute an den Pilatus denkt, dem kommen als Erstes die Touristenströme, der faszinierende Ausblick vom Gipfel und das vielseitige Freizeitangebot in den Sinn. Nicht immer war der Luzerner Hausberg so positiv konnotiert. Als Drachen und Wassergeister dort ihr Unwesen trieben, besass der Mons fractus einen finsteren Charakter und jagte den Luzernern Angst und Schrecken ein.

Um den Luzerner Hausberg ranken sich viele Legenden. Am Anfang stand die Sage vom gewittererzeugenden Pilatussee. Seit jeher war der Pilatus als berüchtigter Wetterberg bekannt. Im 9. Jahrhundert wurde der Luzerner Hausberg erstmals unter dem Namen Fractus Mons erwähnt. Fractus Mons bedeutet gebrochener Berg und war die ursprüngliche Bezeichnung für den Pilatus, die bis zum 16. Jahrhundert gebräuchlich war.

Im 13. Jahrhundert erliess die Luzerner Regierung ein Verbot, den Bergsee, der sich auf der Nordseite bei der Oberalp befindet, zu besuchen. Ferner war es untersagt, Steine, Holz oder andere Dinge in den See hineinzuwerfen. Bei Widerhandlungen drohten drakonische Strafen. Für den modernen Leser wirkt dieses Gesetz äusserst befremdlich. Warum wurde dieses Gesetz erlassen und was wollte damit bezweckt werden?

Kampf gegen die heidnischen Überbleibsel

Hintergrund dieses Beschlusses bildete der uralte Volksglaube, dass sich bei jeglichen Störungen des Bergsees schreckliche Gewitter bilden und die Bergbäche die Luzerner Neustadt überschwemmen würden. Berge wurden als Heiligtümer verehrt und ruhende Gewässer als Wunderstätten betrachtet. Eine dieser Wunderstätten war der Pilatussee in der Nähe der Oberalps. Gegen frühere Kulturorte wie diesen stemmte sich die katholische Kirche. Das Verbot ist also im Kontext der Christianisierung der Schweiz und der Unterdrückung alter heidnischer Bräuche zu betrachten.

Von der Herkunft der Sage über Pontius Pilatus

Anfang des 13. Jahrhunderts ging in Luzern die Legende um, dass einer dieser Wassergeister im Bergsee auf dem Pilatus sein Unwesen treibe. Die Rede ist natürlich vom römischen Landpfleger Pontius Pilatus, der durch den Prozess Jesu in die Geschichtsbücher einging.

Damit der römische Statthalter keinen Schaden mehr anrichtete, wurde seine Leiche zu einem kleinen versteckten See auf dem Fractus Mons gebracht und dort gebannt. In diesem Bergsee, der den Namen Pilatussee erhielt. Er solle keine Naturkatastrophen mehr erzeugen und werde dafür im Gegenzug nicht gestört. Das hiess konkret, dass niemand Gegenstände in den See werfen oder seinen Namen nennen würde. Nun wären wir wieder bei unserem Verbot der Luzerner Obrigkeiten.

Nur einmal im Jahr, während der Messe an Karfreitag, taucht Pontius Pilatus aus dem See auf und versinkt danach wieder.

Die Entzauberung des Pilatus

Felix Hämmerlin, ein Gelehrter aus Zürich, sorgte in der Mitte des 15. Jahrhunderts erstmals dafür, dass die Wahrnehmung des Pilatus als furchterregender und unnahbarer Berg erstmals Risse erhielt. Er umging das geltende Verbot und besuchte im Jahr 1447 den Pilatussee. Wenn Hämmerlin von der natürlichen Entstehung der Pilatusgewitter spricht, dann ist das ein erster Schritt in Richtung Entmystifizierung des Pilatus.

Auch die Humanisten des 16. Jahrhunderts, wie Joachim von Watt und Conrad Gesner, schenkten der Sage von Pontius Pilatus wenig Glaubwürdigkeit. Von Watt notierte nach einer Reise zum Pilatussee 1518: «Dass sich Pilatus alljährlich am Karfreitag hier in seiner Amtstracht auf dem See zeige und dass derjenige, der ihn dann sehe, innert Jahresfrist sterben müsste, halte ich für sinnloses Geschwätz. Es gehört zur Leichtgläubigkeit der Sterblichen, dass sie mit den durch irgendein Naturgeheimnis ausgezeichneten Orten den Zauber der Fabel verbinden.»

Triumph der Wissenschaft

Endgültig entzaubert wurde die Geschichte zur Pilatussage durch die aufklärerischen Jesuiten des späten 16. Jahrhunderts. Bald nach der Ankunft der Jesuiten in Luzern 1574 begannen sie ihren Kreuzzug gegen abergläubische Praktiken. Der Pilatus-Sage sollte es nun endgültig an den Kragen gehen. Der Stadtpfarrer stieg 1585, begleitet vom Schultheiss, dem Luzerner Rat und einigen Schaulustigen auf die Oberalp und bewies mittels eines Experiments die Nichtigkeit der Sage vom verwunschenen Bergsee.

Weder Schmäh- und Schimpfrufe oder andere Provokationen wie das Werfen von Steinen in den See hatten einen Effekt. Der Himmel blieb klar, das Unheil aus. Nachdem sich die Luzerner Bevölkerung also vor keiner Gefahr mehr fürchten musste, wurde das Verbot, den See zu besuchen, fallengelassen. Nach Jahrhunderten des Schreckens kehrte auf dem Pilatus endlich Ruhe ein.

Was von den Legenden bleibt

Auf dem Pilatus herrschte Ruhe? Im Gegenteil! Kaum war die Gefahr gebannt, wandelte sich die Alpenfurcht zur Alpenbegeisterung. Aufklärerische Alpenforscher, Künstler der Romantik, adrenalingetriebene Extremsportler und zuletzt die Bergbahn-Touristen eroberten einer nach dem anderen den Pilatus. Mit dem Siegeszug des Massentourismus im 19. Jahrhundert wurden die geflügelten Fabelwesen wieder zum Leben erweckt, wenn auch auf ganz andere Art.

Heute ist der rote Drache Teil der erfolgreichen Marke Pilatus, es gibt ihn als Kinderspielzeug, man sieht ihn als Skulptur an der Talstation in Alpnach und auf der Kleidung des Personals der Pilatus-Bahnen AG. Sie sind die letzten Überbleibsel der alten Pilatussagen, deren schrittweise Entmystifizierung vor 500 Jahren stattfand. Über diese Entwicklung können wir ehrlich gesagt auch froh sein, denn wer will schon beim nächsten Wanderausflug von einem leibhaftigen vierfüssigen Lindwurm überrascht werden?

Verwendete Literatur:
Heini Janine, Pilatus. Eine sagenumwobene Natur- und Kulturgeschichte, Luzern 2014.
Seewer Martin, Wie der Berg Pilatus zu seinem Namen kam. Sagen und Mythen, Horw 2011.

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