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Dem Kind auf Augenhöhe begegnen

Ein Selbstversuch in «Nicht-Erziehung»

«Ab sofort versuchen wir, die dummen Fragen und die Baby-Sprache zu eliminieren.»

(Bild: pixabay)

Unser Blogger war am Vortrag von André Stern. Als Lehrer war er darauf vorbereitet, dass die Ideale des Mannes, der nie zur Schule ging, zwar einleuchtend sind, sich aber nur schwer in den Alltag der Volksschule integrieren lassen. Dass er aber als Vater ertappt wurde, hat den Autor zu einem Selbstversuch verleitet.

Kürzlich hielt André Stern in Luzern einen Vortrag. Er lebt mit seiner Familie in Paris, er ist Musiker, Komponist, Gitarrenbaumeister, Journalist, Autor, spricht fünf Sprachen fliessend und war nie in der Schule. Seine Erfahrung steht quer in der Landschaft und ist in der Schweiz illegal. Sein Blick auf Erziehung und Schule regt zum Nachdenken an.

Die Botschaft: Den Kindern sei auf Augenhöhe zu begegnen, die Kinder trügen die Potentiale zu dem, was sie werden können, in sich. Dazu brächten die Kinder alle Anlagen mit: Offenheit, Entdeckungsdrang, Spielfreude und Begeisterung. Da das kindliche Spiel Voraussetzung fürs Lernen sei, sei es absurd, die Kinder im Spiel zu unterbrechen und zum Lernen aufzufordern. Genauso surreal empfindet er Jahrgangsklassen und die Wissensvermittlung in gleichförmigen Häppchen.

Der Selbstversuch

Da wollen wir also was ändern zuhause. Ab sofort versuchen wir, die dummen Fragen und die Baby-Sprache wie gefordert zu eliminieren (siehe Box am Ende des Textes). Weg mit der Haltung der Überlegenheit. Und wir wollen bewusster beobachten. Und ihn spielen lassen, die Unterbrüche minimieren. Herrgott, Erziehung oder Stern’sche Nicht-Erziehung, anstrengend ist beides. Das eine aber möglicherweise erfüllender.

Dazu drei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit:

1. Besteck rumwerfen
Unser Kind wirft am Essenstisch mit Dingen um sich. Reaktion bisher: Nach einer Verwarnung aus dem Raum in sein Zimmer beordern – wer nicht pariert, geht raus. Reaktion neu: Vor dem Wurf fragen, ob er fertig sei und runter wolle. Er bejaht und schaut in Frieden und seinen Stuhl verrichtend ein Büchlein neben dem Küchentisch an. Wir essen mit gutem Gewissen zu Ende. Waches Beobachten und Bedürfnisse wahrnehmen: Check! (gelingt aber leider nicht immer)

2. Spielen statt Bett
Unser Kind will nicht ins Bett. Ich jedoch will ihn im Bett haben und noch was erledigen. Meine Reaktion bisher: Doch, es ist jetzt schon spät und du gehst ins Bett. Kurzes Sträuben und Weinen seinerseits, dann schläft er. Reaktion neu: Sagen, dass ich noch was im Büro erledigen will, und fragen, ob er noch kurz alleine spielen möchte, er könne mich nachher rufen; oder ob ich ihn jetzt ins Bett bringen soll. Er überlegt kurz, holt seinen Nuggi und geht ins Bett. Ich bin baff. Mal schauen, ob das immer so geht. Auf Augenhöhe begegnen und gegenseitige Bedürfnisse respektieren: Check! (ich bin gespannt auf weitere Situationen)

3. Schlechtes Gewissen nach dem Zurechtweisen
Wieder das Herumwerfen (irgendeinen Grund wird es wohl haben, es passiert nichts grundlos, blabla – es nervt). Diesmal Spielzeug. Ich reagiere heftig, weil es mich ärgert. Er hat heute sowieso einen schlechten Tag und überhaupt, ich bin müde. Er erschrickt ab meiner Reaktion und verkriecht sich auf seinem Bett. Reaktion bisher: Ich sage ihm, dass ich das nicht möchte, und versuche ihn nach einer Weile mit irgendwas abzulenken, um die Stimmung zu bessern. Büechli anschauen oder sonstwas.

Reaktion neu: Ich sage ihm, dass ich nicht will, dass er Dinge rumwirft. Und ich schiebe hintennach, dass ich ihn trotzdem liebe, weil er sei, wie er sei. Seine Reaktion: Er schaut mich überrascht an und meint «üe-e ned» und dann kuschelt er sich zu mir, schaut mich an und sagt «gä-n, Papa» – Wie schön ist das denn! Und kaum vorstellbar, was ein noch nicht Zweijähriger bereits alles versteht. Und wie die kleinen Verletzungen wohl tatsächlich bereits Tag für Tag stattfinden und stattgefunden haben. Den Kleinen so lieben, wie er ist (und das auch sagen): Check! Und es gibt bestimmt noch viele und auch passendere Situationen, das zu wiederholen.

Und jetzt, in Zukunft?

Eine Nicht-Erziehung nach Stern liegt für uns nicht drin. Dieser Effort scheint schlicht nicht möglich, wenn die Eltern arbeiten müssen, um Essen, Miete und Krankenkasse zu bezahlen. Was tun wir nun? Dem Kind vertrauen, ihm nach unseren Möglichkeiten auf Augenhöhe begegnen und dennoch mit dem Strom der Volksschule mitschwimmen?

Auf Ferien verzichten und es in die Grundacher-Schule nach Sarnen oder in die Steiner Schule nach Ebikon oder in die Montessori-Schule schicken und damit aus der Quartier-Clique ausschliessen und in einen elitären Kreis von Leuten geben, die sich das Schulgeld leisten können? Oder eine eigene Schule gründen? Leihen Sie uns das Haus und die Finanzierung dazu, wir wären bereit.

Kinder als inkomplette Erwachsene

Für André Stern will ein Kind ganz natürlich zur Gemeinschaft dazugehören. Als Erstes zur Gemeinschaft der Familie. Gemäss seiner Theorie geben wir unserem Sohn jedoch täglich zu verstehen, dass er dafür (noch) nicht gut genug ist. Wir grenzen ihn aus, indem wir aus einer Haltung der Überlegenheit kommunizieren:
«Ja sag, was hast du heute denn mit Mama gemacht?» (Mama hatte es doch soeben selbst erzählt?) «Geeeespielt?! Wie schön, und wie gut du das sagst!» «Ja, und sag, was haabt ihr denn gespielt? – Duplo, toll, toll, so toll.» Wir nehmen das Kind nicht ernst, unsere Kommunikation trieft vor sarkastischer Ironie.

Auch geben wir unserem Sohn anderweitig ständig zu verstehen, dass er so, wie er ist, noch nicht komplett ist. Denn wir sagen ihm zwar: «Ich liebe dich.» Es scheint aber eher wie: «Ich liebe dich, aber würdest du durchschlafen, besser sprechen, anständiger essen, weniger streiten, selbständig aufs Häfi gehen, dann, ja dann würden wir dich noch mehr lieben.»

Höher, weiter, schneller, besser

Als wäre das nicht Verletzung genug, kommt der Wahn des Vergleichens und Messens, den die Erwachsenen auf das Kind übertragen. Deiner läuft schon? Meiner kann schon den Buchstaben B schreiben. Der Konkurrenzkampf verdrängt das Spielerische, die Begeisterung, das Vertrauen in sich selbst. Statt die Kinder in eine Richtung zu drängen und immer besser und besser machen zu wollen, wäre es gemäss Stern wirkungsvoller, den Kindern eine Orientierung zu sein, sie in ihren Interessen zu stärken und ihrer Begeisterung, ihrem Lern-, Spiel- und Entdeckungsdrang seinen Lauf zu lassen.

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Kinder: Neun Monate sehnt man sie herbei und dann machen sie einen Haufen Arbeit. Und bestimmen ab sofort Mamis und Papis Leben. Fünf Mütter und ein Vater schreiben über ihren Alltag mit dem Familienzuwachs. Von Herausforderungen, Veränderungen, Ängsten und Freuden.
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