Stadtarchitekt Jürg Rehsteiner tritt zurück

«Das Neubad war ein Wendepunkt für die Stadt Luzern»

Tritt nach zehn Jahren als Luzerner Stadtarchitekt zurück: Der 59-jährige Jürg Rehsteiner. (Bild: bic)

Jürg Rehsteiner hat als Stadtarchitekt eine Ära erlebt, in der sich die Visionen von der Stadt Luzern verändert haben. Nach zehn Jahren gibt er sein Amt ab. Im Interview erzählt der 59-Jährige, wie er die Luzernerinnen in dieser Zeit erlebt hat und was die «Schmette» und das «Eichwäldli» gemeinsam haben.

zentralplus: Jürg Rehsteiner, Sie sind vor zehn Jahren aus Zürich nach Luzern gekommen. Gibt es im Bereich der Stadtentwicklung Unterschiede zwischen Luzern und der Grossstadt?

Jürg Rehsteiner: Vorneweg und weil das vielleicht meine letzte Chance ist, das zu erklären. Ich wurde in Luzern oft als Zürcher wahrgenommen, bin aber keiner. Meine Heimat ist der Kanton Graubünden, wo ich aufgewachsen bin. Ich habe seither in verschiedenen Orten der Schweiz gelebt und gearbeitet.

Zu Ihrer Frage: Ein zentrales Element bei der Entwicklung von Städten und Gemeinden ist ja die Verdichtung nach innen. Damit soll erreicht werden, dass trotz zusätzlichem Arbeits- und Wohnraum nicht immer mehr Fläche überbaut wird. An diesem Punkt habe ich keine Unterschiede zwischen Zürich, wo ich lange gearbeitet habe, und Luzern festgestellt. Ich habe den Eindruck, dass die Notwendigkeit dieser nationalen Strategie beiderorts als notwendig anerkannt wird.

zentralplus: Aber?

Rehsteiner: Als Aussenstehender ist mir aufgefallen, dass die Luzernerinnen und Luzerner besonders stolz auf ihre Stadt und insbesondere auf das hochwertige Stadtbild sind und einen sehr engen Bezug zur ihrer Heimat haben. Gleichzeitig sind hier viel mehr Liegenschaften im Besitz von Privatpersonen als in anderen Städten. Dort gibt es mehr institutionelle Eigentümerinnen wie zum Beispiel Pensionskassen.

zentralplus: Inwiefern spielt das eine Rolle?

Rehsteiner: Es wirkt sich natürlich auf den Umgang mit den Liegenschaften und die Entwicklung der Stadt an sich aus. Denn Privatpersonen verfolgen mit ihrer Liegenschaft oft andere Ziele als professionelle Immobilienentwickler. Ein Stichwort ist dabei der Tourismus.

«Damals bestanden gegenüber dem Thema gemeinnütziger Wohnungsbau zum Teil sehr gemischte Gefühle.»

zentralplus: Sie sprechen es an. Auf den Tourismus wurde bei der Stadtentwicklung in Luzern während der vergangenen Jahrzehnte ein zentrales Augenmerk gelegt. Für wen wird heutzutage an der Stadt Luzern gebaut?

Rehsteiner: Luzern ist das überregionale Zentrum der Innerschweiz. Hier befinden sich die wichtigen Kultur-, Bildungs- und Gesundheitsstandorte. Diese Zentrumsaufgaben muss Luzern folglich erfüllen können. Ebenso ist für den Wirtschaftsstandort der Dienstleistungssektor in Luzern zentral. So haben zum Beispiel mehrere Krankenkassen sowie die Suva in Luzern ihren Hauptsitz.

Aber auch die Wohnraumpolitik ist aktuell ein wichtiges Thema. Aufgrund der genannten wirtschaftlichen Aspekte sowie dem aussergewöhnlich hochwertigen Stadtbild mit der besonderen Lage der Stadt am See mit Sicht auf die Berge ist Luzern ein attraktiver Wohnort und die Mieten darum nicht unbedingt günstig.

«Ein Umdenken brachte 2012 die von Links-Grün gewonnene Abstimmung, die den Verkauf des städtischen Areals an der Industriestrasse verhinderte.»

zentralplus: Die Wohnraumpolitik ist aber erst in den letzten Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit geraten.

Rehsteiner: Das sehe ich genauso. Als ich vor zehn Jahren in Luzern angefangen habe, waren Stadtrat und Parlament noch bürgerlich dominiert. Damals bestanden gegenüber dem Thema gemeinnütziger Wohnungsbau zum Teil sehr gemischte Gefühle. Mittlerweile erlebe ich dies in Luzern aber als selbstverständlich.

zentralplus: Worauf führen Sie diesen Wandel zurück?

Rehsteiner: Ein Umdenken brachte 2012 die von Links-Grün gewonnene Abstimmung, die den Verkauf des städtischen Areals an der Industriestrasse verhinderte. Bis dahin war die städtische Immobilienstrategie darauf ausgelegt, möglichst viele Grundstücke dem Meistbietenden zu verkaufen. Nur wenig später folgte die Annahme der Wohnrauminitiative und festigte diesen Umschwung.

Ich denke, dass man dabei aber die gesamtgesellschaftliche Entwicklung betrachten muss. Wenn eine mittelständische Familie merkt, dass sie sich in der Stadt keine 4-Zimmer-Wohnung mehr leisten kann und politische Parteien diesen Unmut spüren, sind solche Entwicklungen natürlich nachvollziehbar.

zentralplus: Dann gehen sie also davon aus, dass dieses Umdenken vor allem auf ökonomische und nicht auf ideologische Faktoren zurückzuführen ist?

Rehsteiner: Das ist aus meiner Sicht eine Huhn-oder-Ei-Frage, wo alles zusammenspielt. Denn die Industriestrasse-Initiative ging ja unter anderem von den Leuten aus, die dort während Jahren tolle Räume zum Leben und Arbeiten nutzen konnten, auch wenn diese im Winter vielleicht etwas kalt waren. Als sie gemerkt haben, dass ihnen wegen der Pläne der Stadt ihre Lebensgrundlage entzogen wird, wurden sie aktiv.

«Beim Eichwäldli geht es um Fragen, die ich für eine Stadt relevant finde.»

zentralplus: Dass sie damit durchkommen würden, glaubten damals nur wenige.

Rehsteiner: Das Anliegen ist zur Überraschung auf bürgerlicher Seite bei der städtischen Bevölkerung auf grosse Resonanz gestossen. Die andere Hälfte der Politik hat die Idee der Wohnraumpolitik aufgenommen und weiterentwickelt. Das war natürlich ein ziemlicher Paradigmenwechsel und es brauchte einige Zeit, um diesen Wandel zu vollziehen.

zentralplus: Bleiben wir kurz bei Personen, die die von ihnen bewohnten Häuser und damit ihre Lebensform retten wollen. Beim Eichwäldli geht es letztlich auch um diese Fragen. Sie werden in Luzern mittlerweile in den Medien aber auch in den politischen Institutionen emotional diskutiert. Überrascht Sie das?

Rehsteiner: Nicht unbedingt. Denn beim Eichwäldi geht es ebenfalls um Fragen, die ich für eine Stadt relevant finde. Nämlich, ob es noch Orte gibt, wo in unserer reglementierten Welt alternative Lebensformen abseits der Mehrheitsgesellschaft möglich sind. Das wollte der Stadtrat hier ermöglichen.

zentralplus: Mit Blick auf andere Städte überrascht es aber nicht, dass es solche Entwicklungen auch in Luzern einmal geben wird.

Rehsteiner: Vor langer Zeit Bern mit dem Zafaraya oder Zürich mit dem AJZ sind in der Schweiz dafür wahrscheinlich die prominentesten Beispiele. Damit verbunden ist oft auch die Besetzung von leer stehenden Liegenschaften. Die damit verbundenen Ideen und die genannten Forderungen gibt es natürlich auch in Luzern.

zentralplus: Ich erkenne in Ihrer Antwort auch ein «Aber».

Rehsteiner: Das ist richtig. Denn gleichzeitig beruht unser gesellschaftliches System und somit unser Zusammenleben auf Regeln, die für alle gelten. Es stellt sich unweigerlich die Frage, warum diese an einem spezifischen Ort also nicht auch gelten sollen. Zum Vergleich: Meine Abteilung bewilligt rund 500 Baugesuche pro Jahr und achtet dabei penibel auf jedes Detail. Natürlich nicht immer zur Freude der Betroffenen. Deshalb stosse ich an diesem Punkt auch als Bürger an eine Grenze, was das Verständnis betrifft.

Freut sich auf neue Aufgaben: Jürg Rehsteiner vor dem neuen Gebäude am Kapellplatz. (Bild: bic)

zentralplus: Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie der Ansicht, dass die Stadt Luzern folglich ein grösseres Augenmerk auf die Frage richten soll, wie man mit spezifischen Orten und Gebäuden umgehen will.

Rehsteiner: Besondere Orte und wertvolle Gebäude sind immer mit Erinnerungen verbunden. Sie sind für die Bewohnerinnen und Bewohner wichtig für die Identifikation mit ihrer Stadt. Es ist also grosses Fingerspitzengefühl nötig, wenn Planungen mit Abbrüchen, dem Verschwinden von Gebäuden oder starken Veränderungen in gewachsenen Quartieren verbunden sind. Diese Kräfte werden immer mal wieder und gerne unterschätzt.

zentralplus: Ich nehme an, Sie können ein paar Beispiele nennen.

Rehsteiner: Ein bekanntes Beispiel ist die «Schmette» die kurz vor meinem Stellenantritt abgerissen wurde. Viele verbanden persönliche Erlebnisse mit dem Restaurant. Und nur mit dem Wissen um solche invididuelle, soziale Aspekte lassen sich die Vorgänge um das Gewerbegebäude an der Tribschenstrasse, den Grenzhof oder eben das Eichwäldli und die Industriestrasse erklären.

«Im Stadthaus wusste man vor zehn Jahren noch nicht so genau, was Kreativwirtschaft überhaupt ist.»

zentralplus: Ein bis dannzumal für Luzern eher spezielles Projekt ist wohl das Neubad, das sich mittlerweile breiter Beliebtheit erfreut. Hat dessen Ermöglichung auch etwas mit dem sich veränderten Zeitgeist und dem von Ihnen genannten Fingerspitzengefühl zu tun?

Rehsteiner: Ja. Als der Bau des Sportgebäudes auf der Allmend kurz vor dem Abschluss stand, wusste niemand, wie man mit dem alten Hallenbad an der Bireggstrasse umgehen sollte. Ich habe eine Umnutzung vorgeschlagen. In der Baudirektion sorgte das zuerst für grosses Staunen, da man sich schlicht nicht vorstellen konnte, dass man ein Hallenbad auch umnutzen könnte. Ähnlich verhielt es sich, als es um das Thema Kreativwirtschaft ging, welche das Neubad bis heute äusserst erfolgreich nutzt.

zentralplus: Dann gab es diesbezüglich Bedenken? Inwiefern?

Rehsteiner: Im Stadthaus wusste man vor zehn Jahren noch nicht so genau, was Kreativwirtschaft überhaupt ist. Es kursierte damals der Begriff «Grümscheler». Unterdessen hat man erkannt, dass die Kreativwirtschaft einen substanziellen Beitrag zur lokalen Kultur und Wirtschaft beiträgt. Heute ist das Neubad ein Vorzeigeprojekt. Auch das Neubad war also ein Wendepunkt in der Stadt Luzern. Es eröffnete für viele eine neue Denkweise.

zentralplus: Hat Ihnen der Umstand, dass sie von ausserhalb kamen, bei solchen Projekten geholfen?

Rehsteiner: Ich würde sagen ja. Ich hatte die Position des Unbefangenen. Ich konnte mir vielleicht gewisse Sachen herausnehmen, die nicht möglich gewesen wären, wäre ich mit diesem oder jener in der Pfadi oder in der Guggenmusig gewesen. Oder anders gesagt: Ich konnte gewisse Projekte wohl objektiver, sachlicher und fachlicher angehen. Denn es war in diesem Sinne nicht «meine Stadt».

zentralplus: Quasi sakrosankt ist in Luzern, wie angetönt, der Tourismus. Konnten Sie also auch diesen etwas objektiver betrachten.

Rehsteiner: Das ist ein gutes Beispiel. An meinem ersten Arbeitstag in Luzern stand ich mit meinem Vorgänger Jean-Pierre Deville auf dem Schwanenplatz. Ich war der Ansicht, dass es doch nicht sein könne, dass an dieser Prachtslage in erster Linie Reisecars parkiert werden. Seine Antwort damals war: «Darüber kann man in der Stadt nicht reden.» Bekanntlich sitzt man heute mit den dortigen Playern am Tisch. Und gerade Corona zeigt uns, dass dies dringend nötig ist.

«Dass eine Stadt in der Grösse Luzerns ein KKL, ein Fussballstadion und eine Messe hat, finde ich aussergewöhnlich.»

zentralplus: Die Eröffnung des Neubads erfolgte 2013. Wie ging es dann weiter?

Rehsteiner: Die zunehmende Nutzung des öffentlichen Raums und die Frage nach dessen Qualitäten kamen auf den Radar. Ich machte den damaligen Stadtrat Kurt Bieder darauf aufmerksam, dass es diesbezüglich grosse Defizite gebe in Luzern, obwohl damals gerade der Schweizerhofquai neu gestaltet worden war.

zentralplus: Auch solche Themen werden heute fast täglich diskutiert.

Rehsteiner: Richtig. Mittlerweile ist auch dieses Thema voll auf der politischen Agenda und verschiedene Orte in der Stadt wie das Hirschmattquartier, der Grendel, die Kleinstadt oder der Reusszopf, wurden aufgewertet. Bald folgt die Bahnhofstrasse und irgendwann hoffentlich auch das Inseli und das linke Seeufer, oder der St. Karli Quai.

zentralplus: Dann lässt sich zusammenfassend also sagen, dass Luzern eine gute Ausgangslage hat, um die Stadt der Zukunft zu bauen? Es geht etwas.

Rehsteiner: Ja, ganz eindeutig. Und das hat auch wieder damit zu tun, wie die Luzernerinnen und Luzerner ticken. Im katholisch-konservativen Luzern gilt das Wort weniger als im zwiniglianischen Zürich, wo man sehr stark an Regeln glaubt. In Luzern ist es wichtig, dass man miteinander redet. Und wenn man die richtigen Leute zusammenbringt, ist mit vergleichsweise wenig Aufwand einiges möglich. Dass eine Stadt in der Grösse Luzerns ein KKL, ein Fussballstadion und eine Messe hat, finde ich aussergewöhnlich.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Peter Bitterli
    Peter Bitterli, 20.03.2021, 21:02 Uhr

    Herr Rehsteiner trägt die typische Architektenbrille und die Architekten-Schlinge am Schal.

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