Luzernerin kämpft für gute Manieren

«Das Beispiel Trump zeigt, dass ich noch nicht in Pension gehen kann»

Michèle Segouin, die «Anstandsdame» aus Luzern.

(Bild: pbu)

Eine Luzernerin auf den Spuren von Adolph Knigge: Michèle Ségouin tourt als «Anstandsdame» durch die halbe Schweiz. Mit altbackenen Benimmregeln aus Urgrossmutters Zeiten hat das allerdings wenig zu tun. Eher will sie mit ihrer Arbeit Jugendlichen helfen, die Karriereleiter zu erklimmen.

Das rote Kleid ist ihr Markenzeichen. Unübersehbar wandert sie damit zwischen Restaurant-Tischen hindurch, hält Seminare ab und gibt Lehrstunden in Sachen gutes Benehmen. Michèle Ségouin ist Knigge-Trainerin und Benimm-Coach. Die «Anstandsdame», wie sich die gebürtige Luzernerin selbst bezeichnet, ist allerdings keine von der strengen, griesgrämigen Sorte, die bei Fehlverhalten Peitschenhiebe austeilt. Im Gegenteil: Ségouins Waffe ist der Humor.

Mit einer gehörigen Portion Selbstironie und Witz vermittelt sie seit rund fünf Jahren gute Manieren. Ihre Mission: Knigge einer breiten Schicht schmackhaft machen. Knigge und Humor? Geht das zusammen? «Unbedingt», betont Ségouin, die wir bei strahlender Frühlingssonne über Luzern auf einen Kaffee treffen. «Mit Humor kommen Anstandsregeln um einiges entstaubter daher, was den Zugang ungemein erleichtert.»

Trend gutes Benehmen?

Die Anstandsdame scheint jedenfalls einen Nerv zu treffen. Unzählige Workshops und Knigge-Events zeugen von einer zumindest vorhandenen Nachfrage. Ihre Agenda sei gut gefüllt. Zu ihren Kunden zählen Vereine, Schulklassen, Zünfte, Boutiquen, Unternehmen aus allen Branchen und natürlich Hotels und Restaurants. Gutes Benehmen sei im Trend, beruflich wie privat, glaubt Ségouin.

«Knigge und Anstand aktueller denn je.»

Dabei gibt es doch unzählige Beispiele, die vom Gegenteil zeugen. Die Ellenbogen ausfahren, nur dann kommt man richtig weiter, heisst es. Vollgas ohne Rücksicht auf Verluste. Mit unflätigem Gebaren bringt man es mitunter gar zum Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Das ist auch Ségouin nicht entgangen: «Teilweise bringt mich das schon ins Grübeln. Vor allem, wenn es weit unter die Gürtellinie geht. Aber genau darum sind Knigge und Anstand aktueller denn je», ist sie überzeugt. Gerade unanständige Menschen sollten sich mal fragen, was Wertschätzung bedeutet. Das gelte auch für den Präsidenten der USA. «Das Beispiel Trump zeigt mir, dass ich noch nicht in Pension gehen kann», sagt die Knigge-Trainerin und lacht.

Die «Anstandsdame» Michèle Ségouin ist nicht nur Knigge-Trainerin und Benimm-Coach, sondern versteht sich auch als Vermittlerin zwischen Generationen und Kulturen.

Die «Anstandsdame» Michèle Ségouin ist nicht nur Knigge-Trainerin und Benimm-Coach, sondern versteht sich auch als Vermittlerin zwischen Generationen und Kulturen.

(Bild: David Avolio)

Eine Frage der Strategie

Könnte die «Anstandsdame» dem Herrn Trump denn gute Manieren beibringen? «Gebt mir eine Woche», sagt sie mit gespieltem Ernst. «Nein, das wäre wohl schon eine Herausforderung. Wahrscheinlich müsste ich eine Woche lang mit ihm eingesperrt sein. Vielleicht könnte ich ihn danach dazu anregen, sein Tun das eine oder andere Mal zumindest zu überdenken.» Wie genau das geschehen würde, bleibt Berufsgeheimnis.

Es sei indes äusserst schwierig, impulsiven Menschen Achtsamkeit beizubringen, fährt die Luzernerin fort. Hinzu komme das Alter. Je höher die Lebenszeit, desto festgefahrener die Werteüberzeugung. «Ich würde wohl einen Achtsamkeits-Trainer mit zu Herrn Trump nehmen», spinnt Ségouin das Gedankenexperiment weiter. «In Kombination dürfte das wahrscheinlich funktionieren.»

«Knigge ist überall.»

Mit Knigge auf die Karriereleiter

Zurück zu Knigge, der, wie die Expertin betont, vielfach missverstanden werde. Adolph Knigge, dem Autor, sei es nämlich nicht um jene Umgangsformen gegangen, die nur der Förmlichkeit wegen dargeboten werden. «Knigge ist weit mehr als der richtige Umgang mit Messer und Gabel in gehobenen Kreisen. Knigge ist überall. In der Dorfbeiz, in Bars, in Haute-Cuisine-Restaurants, im Beruf, im Alltag. Die Grundphilosophie zielt darauf, Menschen einander näher zu bringen. Es geht um Wertschätzung und Respekt. Deshalb verstehe ich mich in erster Linie als Brückenbauerin.»

Und deshalb beschränkt sich ihr Tätigkeitsfeld nicht nur auf die Gastronomie. Ségouin richtet ihren Fokus besonders auf Jugendliche, denen sie zum Beispiel Tipps für Vorstellungsgespräche mitgibt. «Umgangsformen beeinflussen nicht nur unser soziales Umfeld, sondern auch unsere Karrieremöglichkeiten», rezitiert sie den Slogan ihres nächsten Knigge-Events.

Einen Balanceakt zwischen Seriosität und Witz nennt sie ihre Auftritte. So kann es schon mal vorkommen, dass sie bewaffnet mit überdimensioniertem Besteck den richtigen Umgang damit vermittelt oder erklärt, wie und wo man das Weinglas korrekt hält. Ausgewählte Anekdoten bleiben da nicht aus: «Um zu prüfen, ob der Wein nach Zapfen schmeckt, hat einst ein Kellner direkt aus dem Glas getrunken», erzählt sie. «Das ist natürlich ein absolutes No-Go.»

Dank an den langweiligen Lehrer

Der Grund für Ségouins Engagement liest sich ebenfalls wie eine anekdotische Geschichte. Während ihrer Ausbildung zur Hôtelière-Restauratrice musste sie selbst Knigge-Kurse besuchen. «Das Problem war nicht nur, dass diese Kurse montagmorgens stattfanden, sondern auch, dass sie staubtrocken waren.» Begeisterung seitens der Schülerschaft habe man vergebens gesucht. Dennoch war Ségouins Interesse an der Thematik gross. «Also habe ich mir gesagt, dass ich das eines Tages attraktiver machen werde.»

Fasziniert hätten sie insbesondere die kulturellen Unterschiede. «Was Knigge sagt, gilt für uns, die deutschsprachigen europäischen Länder. Die Welt ist aber sehr verschieden in Sachen Umgangsformen und Anstandsregeln. Das hat mich inspiriert, Transkulturelle Kommunikation zu studieren.»

Dabei wurden unter anderem Bewerbungsgespräche mit Flüchtlingen geübt, die hier auf Jobsuche sind. In deren Herkunftsländern herrschen, so stellte Ségouin schnell fest, diesbezüglich ganz andere Sitten. «Ein Teilnehmer wollte sich zum Beispiel partout nicht hinsetzen, als ich diesen darum bat. Für ihn galt es nämlich als unanständig, sich zu setzen, solange der Vorgesetzte steht.»

«Viele verschiedene Umgangsformen prallen heute aufeinander, aber der Wert dahinter ist derselbe.»

Knigge 2.0

Beispiele solcherart gibt es zuhauf. Allseits bekannt: das Rülpsen chinesischer Gäste am Esstisch. Für sie ein Zeichen der Wertschätzung, für uns unflätiges Benehmen. Michèle Ségouin sieht sich in der Vermittlerrolle zwischen den beiden Polen. «Viele verschiedene Umgangsformen prallen heute aufeinander, aber der Wert dahinter ist derselbe. Das möchte ich herauskristallisieren.»

Die «Anstandsdame» könne dabei helfen, diese Umgangsformen zu lesen und letztlich damit umzugehen. Gerade in der Touristenstadt Luzern stosse sie damit auf grosse Resonanz. Deshalb stehe sie mit Luzerner Hotels in regem Kontakt.

«Ich glaube, die Welt braucht einen Knigge 2.0», konstatiert Ségouin. «Das ist mein Ziel. Ich möchte als Brücke fungieren und so unterschiedliche Sichtweisen zusammenbringen.» Dies allerdings nicht auf steife Art. «Ich gehe die betont interaktiven Anlässe mit einer Kombination aus Ernsthaftigkeit und Humor an und erschaffe so einen unkonventionellen Zugang zu diesem verstaubt klingenden Thema. Alles andere blockiert.»

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