Zuger «Denkschule»

Cyber-Kinder und Primarschul-Astronauten

Dieser Playmobil-Astronaut ist von Kindern ins All geschickt worden. Wie das geht, lernt man an der Zuger Denkschule. (Bild: Ikarus II)

In Oberägeri entsteht ein Stück Zukunft. Zwei Lehrer bringen Kindern Dinge bei, die man selber für unmöglich hält. Oder können Sie eine Kamera ins All spedieren? Ein Computerspiel programmieren? Oberägerer Knirpse lernen das.

Kinder bauen Roboter. Programmieren sie und jagen sie an Wetterballonen ins All. Und finden sie dann per GPS wieder, wenn sie per Fallschirm auf der Erde landen. Geht nicht? Geht doch. In Oberägeri ist ein Stück Zukunft entstanden. Reto Speerli und sein Bruder Felix Speerli haben in der Zuger Berggemeinde etwas gegründet, was in der Schweiz Wellen schlagen könnte: Die «Denkschule». Unterrichtsstoff ist alles, was technisch ist und Kinder begeistern kann. Oder besser, Reto und Felix Speerli begeistern kann. «Wir machen das auch, weil wir selber grosses Interesse an diesen Gebieten haben», sagt Felix Speerli, «wir stammen beide ursprünglich aus technischen Berufen.»

Der Wal ist weit weg

Die Schüler ihrer Denkschule sind momentan noch dieselben, die sie auch sonst als Primarlehrer unterrichten. Aber das soll sich bald ändern. Denn das Konzept funktioniert. «Sehen Sie, immer wenn wir ein Thema mit einer Klasse angehen, dann gibt es am Schluss drei oder vier von zwanzig, die das als Hobby intensiv weiterführen», sagt Reto Speerli. Roboterbau, Flugzeugbau, Lochkamera, Wasserrakete, Projekte gibt es viele. «Und auch die anderen Kinder machen das gerne. Sie wollen das lernen, Programmieren zum Beispiel, Mädchen wie Buben.»

Wollen programmieren lernen? Komplizierte logische Argumente aneinanderreihen lernen? «Natürlich, das ist sehr spielerisch und experimentell. Und Programmieren ist etwas, das der Lebenswelt der Kinder sehr nahe ist. Jeder hat ein Smartphone, gerade hier in Oberägeri», sagt Speerli und lacht. «Kinder lernen in der Schule zwar Wale und Delfine kennen, aber werden wohl in ihrem Leben nie einen echten Wal sehen. Informatik und Technik hingegen haben sie immer dabei. Deshalb sollte man ihnen diese Dinge mindestens genauso intensiv beibringen wie die Wale und Delfine», sagt Felix Speerli.

Ein Roboter, der tanzen kann

Und zwar so, dass das auch klappt: Die Programmiersprachen beim Denkschule-Projekt «Hour of Code» sind grafisch, das bedeutet, die einzelnen Funktionen lassen sich in einem Menu auswählen und bildlich hintereinanderreihen. Wie zum Beispiel bei der Plattfrom «Scratch». «Die Kinder können sich ganz einfach dafür begeistern, und lernen das deshalb im Nu.»

Etwa wenn Speerli den Roboterkurs «Roberta» für eine Klasse aufbaut. Je zwei Kinder bekommen ein programmierbares Lego-Modul, das man mit Motoren und Sensoren ausrüsten kann, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Und dann? «Dann bringen sich die Kinder das quasi selber bei, durch Versuch und Irrtum.» Bringen sich zum Beispiel bei, wie man einen Roboter baut, der einen Ball apportiert. Oder einen Roboter, der tanzen kann. «Das haben die Mädchen einer Klasse gemacht. Die haben sich genauso fürs Programmieren begeistert wie die Jungs.»

Für Speerli ist das ein Traumjob: «Der Roboter ist dann der Lehrer, ich muss nicht mehr korrigieren. Wenn ein Fehler da ist, dann geht der Roboter nicht wie gewünscht. Dann müssen die Kinder den Fehler herausfinden. Und ich kann sie dabei unterstützen und coachen.» Und das geht? «Natürlich. Die lernen da innerhalb einer Woche, wie man programmiert. Und das ist ja genau das, was wir ihnen in der Schule beibringen wollen: Logisches Denken.» Die Aufgabe wird verknüpft mit Recherchen, mit Postern und Plakaten, mit Ideen sammeln und Informationen finden. «Und dann das plötzlich Schulunterricht, und die Kinder merken es gar nicht.»  

Schutzfolie gegen minus 50 Grad

Das klappt aber nur, wenn man ihnen etwas zutraut. Und die Speerlis trauen ihren Schülern einiges zu. Haben mit ihnen zum Beispiel mit ihrem Projekt Ikarus eine eigene Raumfahrtagentur gegründet. Und dafür die Kinder zu Experten gemacht: «Die einen waren dann die Konstrukteure, sie haben das Modul zusammengesetzt, dass wir nach oben geschickt haben.» Eines der Module liegt bei Speerlis herum: Ein Styroporbox, mit goldener Schutzfolie beklebt wie echte Satelliten. «Wegen der Kälte», sagt Reto Speerli. «Da oben wird es teilweise bis zu minus fünfzig Grad kalt.»

Die Linse der GoPro-Kamera schielt gut eingepackt ins Zimmer, hat schon einen Blick ins All geworfen. Der runde Horizont auf den Bildern ist zwar dem Weitwinkelobjektiv geschuldet. Trotzdem sehen sie fantastisch aus, als seien sie von einem Astronauten an Bord der ISS geschossen. Und nicht von einer Hobbykamera aus einer mit Duct-Tape zugeklebten Styroporbox. «Als ich die zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich, ich spinne. Die Bilder sehen so gut aus.» So gut, dass der Film seit einem Jahr im Verkehrshaus Luzern läuft. Die Styroporkapsel ist da ebenfalls ausgestellt. Und zwar – «und jetzt kommst», sagt Reto Speerli stolz – «in der Abteilung Raumfahrt.»

 

Ein zweiter Teil der Kinder hat sich mit den Sensoren beschäftigt, die sie später in die Box gepackt haben. Oder mit Geografie und GPS: Die Box muss ja wieder gefunden werden. «Und wieder andere haben sich damit beschäftigt, wie die Box heil vom Himmel kommen könnte. Und haben zum Beispiel damit experimentiert, wie man rohe Eier aus dem vierten Stock werfen kann, ohne dass sie zerplatzen.» Sie haben es herausgefunden.

«Wenn du ‹programmieren› sagst, geht bei vielen Lehrern der Laden runter»

Reto Speerli, Denkschule-Gründer

Das Ziel: Alle Schulen

Der kleine Kasten, der hier am Boden liegt, war schon im All. Zwei Stunden Aufstieg, eine halbe Stunde für den Fall. Es braucht offenbar nicht viel dafür. Warum ist sowas nicht auf dem normalen Lehrplan? «Viele Lehrer trauen sich das schon mal selber nicht zu.» Und das wollen die beiden Speerlis ändern. Das Ziel: «Es wäre fantastisch, wenn das an allen Schulen angeboten werden könnte.» Einen ersten Schritt unternehmen sie diesen Samstag: An der Science on Stage-Messe für Lehrer im Technorama stellen sie ihre Projekte vor. Und hoffen, den einen oder anderen Lehrer begeistern zu können.

Die Denkschule ist nicht alleine mit ihren Ideen: Es ist eine Welle, die momentan über die ganze Welt geht. Da gibt es das Projekt «Kano», das ist ein von Kindern zusammenbaubarer und programmierbarer Computer. Seine Erfinder haben es geschafft, dass auf der Crowdfunding-Plattform «Kickstarter» statt der gewünschten hunderttausend Dollar gleich eineinhalb Millionen Dollar für seine Realisierung zusammengekommen sind.

Solche Ideen begeistern ganze Gemeinschaften. In der Schweiz gibt es immer mehr Tüftellabore für Kinder, auch in Zug gibt es eines. In Oberägeri ist die Welle ebenfalls in den richtigen Köpfen gelandet. «Es passiert viel auf der Welt im Moment», sagt Felix Speerli. «Es gibt viele Projekte, man tauscht sich aus.» Es entsteht eine neue Kultur für Technikunterricht, eine, die sich auf die Begeisterungsfähigkeit der Kinder ausrichtet. Und auch Erwachsene begeistert. «Uns sagen viele Eltern, zu euch würde ich auch gerne in die Schule gehen. Und etwas übers Programmieren lernen. Das ist für uns ein erstklassiges Kompliment.»

Was hindert die Schulen daran?

Die Idee ist einleuchtend: Kinder spielerisch für Technik begeistern. Sie sollte gerade beim momentan herrschenden Fachkräftemangel auf offene Ohren stossen. Das ist aber nur bedingt der Fall. Es gibt zwar Anknüpfungsversuche mit der Zuger Wirtschafskammer. Aber bei den Schulen selber stossen die beiden noch an Grenzen. «Der Weg ist allgemein immer noch harzig. Wir müssen erst noch viel Überzeugungsarbeit leisten, bis so etwas Teil des regulären Schulstoffes werden kann.»

Was hindert die Schulen daran, ihre Methoden auszuprobieren? «Wenn du ‹programmieren› sagst, geht bei vielen Lehrern der Laden runter», sagt Reto Speerli. «Darauf sind sie einfach noch nicht vorbereitet.» Die Denkschule allerdings ist es. Und hat grosse Ziele: «Ich würde mir wünschen, eines Tages davon leben zu können, Kindern solche Sachen beizubringen», sagt Reto Speerli und ergänzt lachend: «Die Deutschdiktate können alle anderen Lehrer genauso gut wie ich.»

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