Telefonberatungen stiegen

Corona führte in Luzern nicht zu mehr häuslicher Gewalt – oder doch?

Bis sich gewaltbetroffene Frauen Hilfe und Unterstützung suchen, dauert es meistens seine Zeit. (Bild: Adobe Stock)

Im Frauenhaus Luzern blieb die Anfrage nach Plätzen konstant hoch. Aber es suchten nicht mehr Frauen Zuflucht als vor der Corona-Krise. Vielleicht ist es aber noch zu früh, um zu sagen, dass es in Luzern aufgrund der Pandemie nicht zu einem Anstieg von häuslicher Gewalt gekommen ist.

Eine Frau ruft die Polizei an. Ihr Mann – er sei unter Drogen – habe ihr gedroht, den kleinen Sohn vom Balkon zu werfen. Sie hat Angst, dass er seine Drohung in die Tat umsetzt.

Schon früher ist die Polizei mehrmals ausgerückt, weil der Nachbar wegen Ruhestörung geklagt hat. Die Polizei befragte die Frau und den Mann einzeln. Stets verneinte sie Gewalt.

Im Kanton Luzern muss die Polizei fast täglich wegen häuslicher Gewalt ausrücken. Der geschilderte Fall ist nur einer von vielen, die der Geschäftsleiterin des Frauenhauses Annelis Eichenberger in den letzten Monaten gemeldet wurden.

Frauenhaus Luzern: Der Ansturm auf die Plätze blieb aus

Im Frauenhaus Luzern sind die sieben Zimmer gut belegt. «Bis jetzt habe ich aber keinen Anstieg an häuslicher Gewalt beobachten können», sagt Eichenberger. «Die Nachfrage nach Plätzen im Frauenhaus ist in der Corona-Zeit auf dem Niveau des Vorjahres konstant hoch geblieben.»

Das mag überraschen, denn schweizweit befürchteten Expertinnen im Frühling, dass sich wegen Corona die Gewalt in den eigenen vier Wänden zuspitzen könnte. Im Juni folgte eine erste Entwarnung: Eine Taskforce gegen häusliche Gewalt des Bundes vermeldete, dass es schweizweit zu keinem Anstieg gekommen sei. Aber jetzt nähmen in einigen Kantonen die Fallzahlen zu, wie etwa in Zürich, berichtete der «Tagesanzeiger».

Hier finden gewaltbetroffene Frauen Hilfe

Gewaltbetroffene Frauen, Angehörige oder Fachstellen können sich unter der Telefonnummer 041'360'70'00 an das Frauenhaus Luzern wenden. Die Helpline ist rund um die Uhr erreichbar.

Im Notfall ist die Polizei unter der Telefonnummer 117 für dich da.

Auch erste Zwischenergebnisse einer Langzeitstudie von zwei Forscherinnen der Hochschule Luzern zeigen, dass insbesondere Gewalt gegen Kinder nach dem Lockdown zugenommen hat (zentralplus berichtete).

… aber die telefonischen Beratungen nahmen deutlich zu

«Wir finden für jede gewaltbetroffene Frau und ihre Kinder einen Platz, wenn sie misshandelt oder bedroht wird und von zu Hause weg muss», fährt Eichenberger fort. Im Frauenhaus blieb die Fluktuation während der Coronapandemie intakt. Selbst während des Lockdowns haben Bewohnerinnen Wohnungen gefunden und konnten so aus dem Frauenhaus ausziehen.

«Paare, bei denen ein emotionales oder materielles Ungleichgewicht herrscht und die über keine konstruktiven Formen der Konfliktlösung verfügen, sind besonders gefährdet.»

Annelis Eichenberger, Geschäftsleiterin Frauenhaus Luzern

Deutlich mehr Frauen suchten aber telefonischen Rat beim Frauenhaus (zentralplus berichtete). Frauen wollten sich absichern. Sie fragten nach «was wäre, wenn ...?». Andere erkundigten sich nach der Telefonnummer einer Anwältin, wiederum andere hatten Fragen zum Kinderschutz.

«Ehemalige Bewohnerinnen, die vor dem Lockdown zum gewalttätigen Ehemann zurückgekehrt waren, meldeten sich anfangs Lockdown wieder bei uns. Sie planten einen Eintritt ins Frauenhaus», so Eichenberger. Sie erzählten, dass sich die Situation zu Hause nicht verbessert habe und sie sich von ihrem Mann trennen möchten.

«Im Allgemeinen war der Strauss an telefonischen Anfragen derselbe wie vor Corona. Nur die Häufigkeit war eine andere.» Besonders anfangs März, als in der Bevölkerung eine grosse Verunsicherung spürbar gewesen sei. «Damals verzeichneten wir in kürzester Zeit so viele telefonische Beratungen wie noch nie.» Üblicherweise sind es jährlich rund 1'200, dieses Jahr wird die Zahl laut Eichenberger um einiges höher ausfallen.

Deutlicher Anstieg an Beratungen auch bei der Opferberatungsstelle

Auch die Opferberatungsstelle Luzern verzeichnete einen Anstieg an Beratungen im Bereich häuslicher Gewalt. Von Januar bis Ende Oktober stiegen diese um neun Prozent im Vergleich zum Vorjahr, bestätigt Edith Lang, Leiterin der Dienststelle Soziales und Gesellschaft. Gerade in der letzten Phase des Lockdowns von Mai bis Juni sei das Beratungsangebot «überdurchschnittlich genutzt» worden.

«Ein Anstieg ist erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung zu verzeichnen.»

Edith Lang, Leiterin der Dienststelle Soziales und Gesellschaft.

Ob es während der Corona-Krise im Kanton Luzern zu einem Anstieg an häuslicher Gewalt gekommen ist, kann Lang nicht abschliessend beantworten. «Während der ersten Phase des Lockdowns – von Mitte März bis Mitte Mai – weisen weder die Zahlen der Polizei noch diejenigen der Beratungsstellen auf einen markanten Anstieg von innerfamiliärer Gewalt hin.» Seit den erneuerten Corona-Massnahmen könne noch kein Trend ausgemacht werden. Sie schreibt aber auch: «Ein Anstieg ist erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung zu verzeichnen.»

Die Corona-Situation allein führt nicht zu mehr Gewalt

Die Pandemie ist für alle eine absolute Ausnahmesituation. Was bislang selbstverständlich und sicher war wie Job, Einkommen sowie Kita- und Schulbesuch, werde unvermittelt zu einer unsicheren und unklaren Situation, mit der in irgendeiner Art umgegangen werden müsse, so Eichenberger. «Paare, bei denen ein emotionales oder materielles Ungleichgewicht herrscht und die über keine konstruktiven Formen der Konfliktlösung verfügen, sind besonders gefährdet.» Oder auch Paare, bei denen es bereits in der Vergangenheit zu psychischer oder physischer Gewalt gekommen sei.

Doch warum blieb der Anstieg in Luzern bisher aus? Eichenberger fällt es schwer, eine klare Antwort zu finden. Allenfalls, weil das Hilfsangebot der Frauenhäuser recht bekannt sei und weil misshandelte Frauen kontinuierlich Hilfe holten oder das Zuhause verliessen.

«Die Coronapandemie, der Lockdown, Unsicherheiten und Zukunftsängste allein führen jedoch nicht dazu, dass Männer ihren Partnerinnen häufiger drohen oder sie schlagen.»

Annelis Eichenberger

«Die Coronapandemie, der Lockdown, Unsicherheiten und Zukunftsängste allein führen jedoch nicht dazu, dass Männer ihren Partnerinnen häufiger drohen oder sie schlagen», sagt Eichenberger. Niemand schlage die Partnerin oder den Partner aus dem Blauen heraus. «Während des Lockdowns mag es vielleicht in Partnerschaften zu mehr Diskussionen gekommen sein, weil man enger aufeinander sass. Aber nicht in einem gewalttätigen Ausmass, wie wir es kennen, sodass Frau und Kinder subito wegmüssen.»

In den letzten Monaten hätten zwar schon einige Frauen erwähnt, dass der Mann mehr zu Hause sitze und sie Mühe hätten, das Zuhause zu verlassen. «Aber das haben wir auch in normalen Zeiten», so die Geschäftsleiterin des Frauenhauses.

Gewalt in den eigenen vier Wänden während der Pandemie? Ein «nicht untypisches Beispiel»

Edith Lang erzählt von einer gewaltbetroffenen Frau, bei der es während der Coronapandemie erneut zu Gewaltvorfällen gekommen ist zwischen ihrem Mann und ihr. Die betroffene Frau wohnt mit ihrem Mann und ihrem gemeinsamen Sohn zusammen. Sie, Hausfrau und Mutter, er arbeitet Vollzeit. Seit der Geburt des Sohnes sei es immer wieder zu Gewaltvorfällen gekommen.

Seit März arbeitet der Mann im Homeoffice. «Es entstanden vermehrt Spannungen, welche in einem erneuten Gewaltvorfall gipfelten. Der Ehemann beschimpfte seine Frau, stiess sie zu Boden und schlug ihr ins Gesicht», erzählt Lang. Die Frau versuchte sich vor ihm zu schützen, er wiederum riss ihre Kleider aus dem Schrank und verlangte von ihr, das Haus zu verlassen. Sie flüchtete mit dem gemeinsamen Sohn zu einer Kollegin und trat am darauffolgenden Tag in eine Schutzunterkunft ein und liess sich auf der Opferberatungsstelle beraten.

«Dieses nicht untypische Beispiel zeigt auf, dass es innerhalb eines Familiensystems zu erneuter Gewalt gekommen ist», schreibt Lang. «Ob die Folgen der Covid-19-Massnahmen, also die Homeoffice-Situation – diese Entwicklung beschleunigt haben oder nicht oder ob es ohne Pandemie nicht zu erneuten Gewaltvorfällen gekommen wäre, lässt sich letztendlich nicht schlüssig beantworten.»

… vielleicht ist es aber auch einfach noch zu früh

Eichenberger betont, dass es viel braucht, bis eine Frau Hilfe und Unterstützung beim Frauenhaus sucht. Nicht selten sind gewaltbetroffene Frauen von ihrem Partner abhängig. Sei das emotional und/oder finanziell. Ist es folglich noch zu früh zu sagen, dass es in Luzern aufgrund von Corona nicht zu mehr häuslicher Gewalt gekommen ist? «Vielleicht stellen wir tatsächlich erst später einen Anstieg fest», so Eichenberger.

Für dieses Jahr rechnet sie in etwa mit gleich vielen Aufenthaltszahlen wie im Vorjahr. Also mit rund 90 Frauen und 100 Kindern.

«Doch was auch kommen mag: Wichtig ist, dass wir personell und finanziell gerüstet sind», so Eichenberger. Im Frauenhaus Luzern ist man gewappnet – auch bei einem allfälligen Anstieg von häuslicher Gewalt.

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