Vicino Luzern wächst dank Pandemie

Corona brachte die Nachbarschaftshilfe in Luzern zum Boomen

Wilma Wessel ist Standortleiterin im Himmelrich-Quartier in der Luzerner Neustadt, dem ersten Standort von Vicino Luzern. (Bild: esa)

Vicino setzt sich seit sechs Jahren in der Stadt Luzern für Nachbarschaftshilfe ein. Die Corona-Pandemie brachte das Projekt zusätzlich zum Boomen. Das zeigt, wie wichtig lokale Hilfsnetzwerke in Krisenzeiten sein können. 

Möglichst lange in ihrem vertrauten Umfeld leben – das will der Verein Vicino Luzern älteren Menschen ermöglichen. Dafür arbeitet er mit Pro Senectute, Spitex und über 30 weiteren Organisationen zusammen. Seit es vor rund sechs Jahren gestartet ist, bekommt das Projekt schweizweit Anerkennung – und ist für viele Quartierkräfte ein Vorbild.

Mit dem Ausbruch der Pandemie und dem Beginn der Eindämmungsmassnahmen zeigte sich, wie effektiv organisierte Nachbarschaftshilfe in Krisenzeiten sein kann. Vom Himmelrich-Quartier in der Luzerner Neustadt, dem Stützpunkt von Vicino Luzern, breitet sich ein Freiwilligennetz aus, das in der gesamten Stadt zum Einsatz kommt. Mittlerweile ist die pandemiebedingte Quartierhilfe wegen der gesunkenen Nachfrage wieder aufgelöst. Nichtsdestotrotz entstanden daraus Verbindungen, die bis heute bestehen und weiter wachsen.

Zeit der grossen Entwicklungsschritte

Die Pandemie sei für viele Menschen «eine ganz schlimme Zeit» gewesen, sagt Wilma Wessel, Co-Standortleiterin in der Luzerner Neustadt. Dadurch habe Vicino Luzern «grosse Entwicklungsschritte gemacht.» In der Neustadt hat der Verein seinen Ursprung, hier wurde Pionierarbeit in Sachen Nachbarschaftshilfe geleistet. Das Konzept ist so erfolgreich, dass 2019 die Standorte Littau und Würzenbach dazukommen und die Stadt Luzern entscheidet, den Verein mit Leistungsvereinbarungen zu unterstützen. Das Schönbühl-Quartier wird noch dieses Jahr folgen und nächstes Jahr soll auch das Wesemlin-Quartier von Vicino erschlossen sein.

Im Vergleich zu Vor-Corona-Zeiten seien «die Zahlen der Besuchenden insgesamt gestiegen», erklärt Wessel. «Durch die Quartierhilfeaktion fanden viele Menschen zu Vicino und machen nun regelmässig von unserem Angebot Gebrauch.» Als Co-Standortleiterin ist Wessel während der Pandemie eine der zentralen Koordinationsstellen der organisierten Quartierhilfe. Zusammen mit der Genossenschaft Zeitgut, die Menschen für Freiwilligenarbeit vermittelt und mit Zeit statt Geld abrechnet, erstellt Vicino Luzern ein Ad-hoc-Hilfsenetzwerk während der Shutdownphasen.

Quartierhilfe für die gesamte Stadt

«Als die Massnahmen ergriffen wurden, haben wir über das Wochenende Flyer entwickelt und konnten am Montag damit starten, sie zu verteilen», erzählt Vicino-Co-Präsidentin Tamara Renner. «Das war aber nur möglich, weil wir schon ein bestehendes Netzwerk hatten.» Über ihre Anlaufstellen vermittelt die Stadt Luzern Hilfsbedürftige. Zudem sammeln sich an den jeweiligen Standorten weitere Anfragen. Insgesamt suchen mehrere Hundert Menschen während des Shutdowns nach Unterstützung bei der Quartierhilfe von Vicino und Zeitgut.

«Im Herbst gab es nur noch wenige Anfragen»

Wilma Wessel, Co-Standortleiterin in der Luzerner Neustadt

Um die Quartierhilfe zu koordinieren, wurden Freiwillige in einen Gruppenchat der Signal-App und zum Vicino-Standort eingeladen. Alle erhielten eine Flasche mit Desinfektionsmittel und unterschrieben zum Start einen Vertrag. Zudem wurde allen ein Schlüsselanhänger mitgegeben, um sich vor Ort als Vicino-Helfer ausweisen zu können. Die Standortleitung holte durch direkte Gespräche via Telefon die Hilfsaufträge bei den Bedürftigen ab, verteilte sie anonymisiert via Gruppenchat an die Freiwilligen und bildete auf diese Weise sogenannte Tandems.

Die Treffpunkte von Vicino Luzern basieren auf einer sogenannten «Teilete», bei der sich die Besucher um die täglichen Besorgungen kümmern. Dafür ist das Angebot für alle gratis. (Bild: esa)

Gepflegte Beziehungen

Allein am Standort Neustadt fanden rund 150 freiwillige Helfer und Unterstützungssuchende zueinander. Durch die vielen Freiwilligen konnte auch quartierübergreifend in der gesamten Stadt Luzern Hilfe geleistet werden. Um Prozesse möglichst unkompliziert zu gestalten, verteilte Vicino beispielsweise Einkaufskarten an die Freiwilligen und stellte sie später den Betroffenen in Rechnung. «Die Arbeit war Action pur», erzählt Wilma Wessel, der dieser Arbeitsaspekt während der Pandemie «sehr viel Freude bereitet» habe. «Wir waren ein super gut eingespieltes Team und hatten sehr motivierte Freiwillige – vor allem Junge.»

Als die Coronabestimmungen im Sommer letzten Jahres lockerer wurden, flachte die Nachfrage nach der Quartierhilfe ab. «Im Herbst gab es nur noch wenige Anfragen», erzählt Wessel. Vergangenen April läuft das Quartierhilfeprojekt schliesslich aus. «Wir wollten unsere Freiwilligen entlasten und riefen alle bestehenden Tandems an.» Bei den Hilfsbedarfsabklärungen stellte sich dann heraus, «dass sehr viele Leute einfach weitergemacht haben und die Beziehungen weiterhin pflegten».

Ein gutes Gefühl

Freudig erzählt Wessel von einem über 90-jährigen Besucher, der sich immer noch regelmässig mit seinem Freiwilligen trifft, um irgendwo einen Kaffee zu trinken und zu reden. Oder von der Familie, die ihrem Tandem die Geburtsanzeige ihres neugeborenen Kindes schickte. Auch Michael Emmenegger ist ein freiwilliger Nachbarschaftshelfer. Der Leiter der praktischen Modulklasse von Dreipunkt, einer Luzerner Sonderschulklasse, geht bis heute noch jeden Freitag für sein Tandem einkaufen – zusammen mit jeweils zwei Jugendlichen der Oberstufe.

Auch Jugendliche haben sich am Projekt beteiligt. (Bild: esa)

«Die Jugendlichen sollen Freiwilligenarbeit kennenlernen und dabei merken, dass es ihnen so gut geht, dass sie auch anderen helfen können und nicht für jede Arbeit Geld erhalten müssen», sagt Emmenegger. «Diese Hilfestellung gibt auch den Jugendlichen ein gutes Gefühl.» Letztlich seien die Hilfsaktionen bei allen Beteiligten gut angekommen und er habe bis heute eine sehr gute Beziehung zur Familie seines Tandems, erzählt Emmenegger. «Ihr Ehemann hat uns vor einigen Wochen besucht und der Klasse aus seinem Leben erzählt. Für nächstes Schuljahr ist geplant, dass auch mein Tandem der Klasse von ihrem Leben und dem Umgang mit ihrer Krankheit berichtet.»

Bestätigte Aufbauarbeit

Zwar habe es während der pandemiebedingten Quartierhilfe auch grosse Herausforderung gegeben, erzählt Wilma Wessel, wie etwa «Menschen, die mehr Hilfe benötigten, als dass sie anfragten» oder: «verzweifelte Menschen, die nach Hilfe baten und dabei auch ihre Lebensgeschichte erzählten». Jedoch habe das alles Platz und sei ein Teil der Arbeit. «Man braucht dann keine Lösungen parat zu haben, die Leute sind einfach froh, wenn sie reden können.» Letztlich sei die Quartierhilfeaktion ein vollumfänglicher Erfolg gewesen und man würde beim nächsten Shutdown alles nochmal so aufziehen. Für Vicino war die Pandemie somit ein grosser Test und bestätigte letztendlich die Wichtigkeit der bisherigen Aufbauarbeit.

Vicino Luzern: Geteilte Freiheiten

In der Neustadt befindet sich der Treffpunkt von Vicino Luzern beim Himmelrich-Quartier zwischen dem Gasthaus Petrus und dem Einkaufsladen Denner. Ohne als Gastgewerbe zu gelten, können Besucher, die in der Regel zwischen 60 und 101 Jahre alt sind, hier einen Kaffee trinken und in Austausch kommen. Der Ort basiert auf einer sogenannten «Teilete». Dabei wird auf eine Tafel geschrieben, was der Treffpunkt braucht, und die Besuchenden sorgen dafür, dass Dinge wie Kaffee oder Spülmittel vorhanden sind. Zudem gibt es immer auch wieder Spenden, wie beispielsweise ein Sofa oder Keyboard.

«Wir halten es möglichst niederschwellig, damit die Leute auch wirklich kommen», erklärt Wilma Wessel. «Deshalb ist hier alles gratis für die Besuchenden. Und es funktioniert!» Künftig will man bei Vicino vertiefter auf das Thema Einsamkeit eingehen, indem Betroffene noch besser erreicht werden und Menschen mit eingeschränkter Mobilität zu mehr Bewegungsfreiheit kommen. Zu diesem Zweck veranstaltet Vicino ein Crowdfunding, um eine Rikscha für das Neustadt-Quartier zu besorgen. Bisher hat der FC Luzern zugesagt, zur Einweihung die Rikscha zu fahren. Dafür wird noch weitere lokale Prominenz gesucht.

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