Luzernerin kämpft gegen sexuelle Gewalt

Cindy Kronenberg brach für Vergewaltigungsopfer das Schweigen

Hat eine Anlaufstelle gegründet, um anderen Betroffenen sexueller Gewalt zu helfen: Cindy Kronenberg. (Bild: ida)

Viele Menschen sind von sexueller Gewalt betroffen. Eine, die darüber spricht, ist Cindy Kronenberg aus Luzern. Vor sechs Jahren wurde sie vergewaltigt, heute hilft sie anderen Betroffenen. Kürzlich wurde sie dafür geehrt.

Sie hat die Mauer des Schweigens eingerissen. Hat öffentlich über ihre eigene Vergewaltigung gesprochen. Um das Tabuthema zu brechen, um eine Stimme zu sein für all jene, die sexuelle Gewalt erfahren mussten. Seit einem Jahr nun kämpft Cindy Kronenberg aus Sursee für all jene, denen ähnliches widerfahren ist wie ihr selber.

Denn das sind viele. Zu viele. Laut Amnesty International hat in der Schweiz mindestens jede fünfte Frau ab 16 Jahren einen sexuellen Übergriff erlebt. Mehr als jede zehnte Frau erlitt Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen – wie etwa im Fall einer 35-Jährigen im Oktober in der Stadt Luzern (zentralplus berichtete)

Kronenberg hat die Anlaufstelle Vergewaltigt.ch aufgebaut. Eine Anlaufstelle, bei der Betroffene auf ein offenes Ohr treffen. Und wo sie Informationen erhalten, wie sie weiter vorgehen könnten. Betroffene erhalten aber auch eine Begleitung beim Gang ins Spital oder zur Polizei oder werden mit Expertinnen zusammengebracht.

Der Kampf kostet Energie und Mut

«Cindy Kronenberg hat ihre erlittene Verletztheit in unglaublich viel Energie umgewandelt, um anderen zu helfen.» Mit diesen Worten wurde die 29-Jährige kürzlich geehrt, als sie den Prix Courage gewonnen hat. Eine «megariesengrosse Ehre», sei das, sagt Cindy Kronenberg, als wir sie an einem sonnigen Herbsttag auf einen kalten Mate-Tee im Stadtcafé in Sursee treffen. «Und für mich ein Zeichen, dass der Kampf gegen sexuelle Gewalt seinen Platz in der Gesellschaft verdient hat.»

«Was mich antreibt, ist dieses Unverständnis. Die Wut, warum so vielen Menschen sexuelle Gewalt widerfährt.»

Cindy Kronenberg

Es kostet sie jedes Mal wieder Mut und Überwindung, um über die schmerzvolle Erfahrung zu sprechen. Sie tut es, um andere Opfer zu unterstützen. Um zu zeigen: Du ist nicht alleine. Du wirst gehört. Und – ganz wichtig: Du bist nicht schuld an dem, was dir widerfahren ist. «Denn so unterschiedlich alle Erlebnisse auch sind, so viel haben wir gemeinsam. Wie wir fühlen, wie wir denken nach so einem Erlebnis.»

Darüber zu sprechen, die Geschichten anderer Betroffen zu hören, das wühlt auf. «Klar, saugt das auch Energie», sagt Kronenberg. «Es gibt definitiv auch Tage, an denen ich das Gefühl habe, dass es mich belastet. Tage, an denen ich sage: ‹Nein, heute möchte ich mit dem Thema nichts zu tun haben.›  Was mich antreibt, ist dieses Unverständnis. Die Wut, warum so vielen Menschen sexuelle Gewalt widerfährt.»

Sie setzt sich für die Revision des Sexualstrafrechts ein

Und nicht zuletzt ist es die Hoffnung. Die Hoffnung, dass sich etwas ändert. Dass sie etwas bewirken kann. Oder dass durch ihr Lautwerden die richtigen Menschen angeregt werden, dass sich etwas ändert. Und zwar in allen Bereichen – wie etwa im juristischen Bereich. Kronenberg setzt sich für die Revision des Sexualstrafrechts ein.

Denn heute gilt eine Vergewaltigung nur dann als Vergewaltigung, wenn eine Frau gegen ihren Willen unter Gewaltanwendung vaginal penetriert wird. Laut dem Strafgesetzbuch ist es keine Vergewaltigung, wenn das Opfer männlich ist. Vor allem gilt es nicht als «Vergewaltigung» und auch nicht als sexuelle Nötigung, wenn ein Opfer keinen Sex will, sich aber nicht aktiv dagegen wehrt oder wehren kann.

Einfacher gesagt: Die Frage, ob sich ein Opfer gewehrt hat – beziehungsweise ob es sich wehren konnte – entscheidet über das Strafmass. Hast du dich gewehrt? Dann wurdest du beim Sex, der gegen deinen Willen geschah, vergewaltigt.

«Denn es ist egal, wie ich mich verhielt, ob ich erstarrte oder nicht, denn die Tatperson verletzte meine sexuelle Selbstbestimmung, was nicht okay ist.»

Hast du dich nicht gewehrt – beziehungsweise hast du dich nicht wehren können –, weil du in eine Schockstarre gefallen bist und wie gelähmt warst? Dann gilt das als sexuelle Belästigung. Ein Nein genügt nicht (zentralplus berichtete).

Kronenbergs Meinung ist klar: «Nur Ja heisst Ja. Zustimmung ist das, was zählt. Wenn jemand eine Grenze überschreitet, ein Nein missachtet, so ist dies nie die Schuld des Opfers.» Relevanter ist es deshalb aus ihrer Sicht, dass der Grundtatbestand fehlende Zustimmung sein muss. «Denn es ist egal, wie ich mich verhielt, ob ich erstarrte oder nicht, denn die Tatperson verletzte meine sexuelle Selbstbestimmung, was nicht okay ist.» Für ihre Meinung konnte sie sich auch bei einer Anhörung bei der Rechtskommission starkmachen, wo sie die Sicht einer Betroffenen schilderte.

Insbesondere gegen das Victim Blaming – also dagegen, dem Opfer eine Mitschuld an der Tat zu geben – will Kronenberg vorgehen. «Denn egal, ob eine Person Alkohol getrunken hat oder nicht, ob sie einen Minirock getragen hat oder nicht, ob es der Partner, die Freundin, der Vater oder die Tante war: Es ist nie okay. Es ist nie deine Schuld.»

Sie selbst fühlte sich unverstanden und alleine

Es ist sechs Jahre her, als Kronenberg selbst Opfer sexueller Gewalt wurde. Sie wurde auf einer Bank im Luzerner Vögeligärtli von einem Fremden vergewaltigt. «Eine Vergewaltigung ist nicht einfach ‹nur› ein Erlebnis. Dahinter stehen Menschen, die meist ein Leben lang von dieser Tat geprägt sind.»

Nach dem traumatischen Erlebnis stiess Kronenberg auf vieles, was dafür sorgt, dass Betroffene sich unverstanden, ungehört und alleine gelassen fühlen. Wie das Umfeld sich etwa gleich erkundigt, ob man sich denn gewehrt habe und schon bei der Polizei war. Kronenberg fand auch nur wenige sachliche Informationen. «Damals habe ich nach dem Stichwort Vergewaltigung gegoogelt. Ist mir das wirklich passiert, fragte ich mich. Es war für mich schwierig, mir einzugestehen, dass ich durch diese Tat zum Opfer wurde.»

Kronenberg fehlte der Austausch mit Betroffenen. Etwa, als sie allen Mut zusammennahm und auf den Polizeiposten ging. Als sie sich allen diesen unangenehmen Fragen stellte und als sie auf zahlreiche Fragen keine Antwort wusste, weil ihr Bewusstsein während der Tat teilweise auf Blackout geschaltet habe, um das ganze irgendwie auszuhalten.

Ihr Kampf geht weiter

Die studierte soziokulturelle Animateurin las sich mehr ins Thema ein, widmete ihre Bachelorarbeit der Sache. «Mit all dem Wissen konnte ich einfach nicht mehr ruhig sein. Und um nicht länger in der Trauer zu bleiben, musste ich laut werden.» Sie veröffentlichte auf Facebook ein Schreiben, das mit den Worten: «‹Lieber›  Vergewaltiger, liebe Freunde», beginnt. «Ja, ich liebe mein Leben, doch an manchen Tagen geht’s mir richtig beschissen», schreibt Kronenberg darin. Im Schreiben erzählt sie über das traumatische Erlebnis, das sie auch heute noch prägt – und welches die Leserin aufwühlt und fassungslos macht.

Mit dem Facebook-Post kam der Aufbau des Vereins Vergewaltigt.ch. Kronenberg sagt: «Anscheinend habe ich wohl eine Stimme, mit der ich etwas bewirken kann.» Derzeit ist sie an der Erarbeitung von Präventionskursen an Schulen. «In diesen geht's darum, wie man selber nicht zur Tatperson wird.» Zwar sei es enorm wichtig, seine Grenzen zu kennen und diese zu kommunizieren. «Aber leider ist es so, dass in der Realität diese Grenzen von einem Gegenüber nicht immer akzeptiert werden. Wir wollen mit den Kursen ein Bewusstsein schaffen, was es beispielsweise im Gegenüber auslöst, wenn ich ihm nachpfeife. Oder wie man ein Einverständnis holen kann, wenn man jemanden küssen will.»

Dass sie das Schweigen gebrochen hat, bereut Kronenberg bis heute nicht. Denn auch wenn es Kraft und Energie braucht: «Mit jeder neuen Geschichte, die an mich getragen wird, mit jeder neuer Betroffenen sexueller Gewalt, die sich an mich wendet, wird mir noch viel klarer: ‹Es muss endlich etwas gehen.›» Und deswegen kämpft Cindy Kronenberg weiter.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Mary
    Mary, 08.12.2022, 07:13 Uhr

    Ja – es muss etwas passieren! Vorallem gegen das Victim Blaming! Das ist oft schlimmer als die Vergewaltigung, denn es wird das Opfer krank machen. Es geht um Verrat anstatt Hilfe von den Menschen die man liebte und denen man vertraut hat. Und da die Polizei in Befragungen auch noch erniedrigt erhalten Täter und ihre Mitvertuscher Macht. Danke dass junge Frauen mit heutigen MediaMitteln an die Oeffentlichkeit gehen. Danke Cindy Kronenberg!!!

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