Anarchie an Luzerner Fasnacht

Botox spritzen, Fett absaugen: Die «Vikinger» kommen

Königliche Tanz-Session an der Luzerner Fasnacht. Die Vikinger 1996. (Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Sie sind die Rockstars unter den Guggen und beeinflussten die Luzerner Fasnacht wie kaum andere: die Vikinger. Ihren typischen Sound mit Gitarren, Gesang, Keyboard und diversen elektronischen Geräten spielen sie schon seit 30 Jahren. Warum diese «völligen Hohlköpfe» noch heute Horden von Mädchen und Jungen in Ekstase versetzen. 

Wer sind die Vikinger? Diese Frage stellt nur jemand, der keine Ahnung von Tuten und Blasen hat. Die Antwort: Die Vikinger haben nichts weniger als die Luzerner Fasnacht revolutioniert, sie sind für ihren unkonventionellen Sound bekannt und erzeugen seit Jahren alles andere als den üblichen Radiohit-Militärmarsch-Einheitsbrei. Die Musiker sind massgeblich dafür verantwortlich, dass die Luzerner Fasnacht so ist, wie sie ist – und würden es niemals zugeben.

«Die Verstärker wurden auf einen Kinderwagen montiert und mitgezogen.»

Urs Bieri, Präsident

Man könnte sagen, die Vikinger sind eine etwas zu gross geratene Band. Ein schräger Haufen, der Stromgitarren dabei hat, singt, Keyboards druntermischt und auch sonst noch allerlei elektronische Geräte einstöpselt. Aber begleitet mit Bläsern, Drums und Percussion bleibt in den Strassen kein Bein mehr neben dem anderen. Am Schmutzigen Donnerstag, 4. Februar geht’s los. 

 

Eine Probe in der Schüür. (Bild: Heinz Pal)

Eine Probe in der Schüür. (Bild: Heinz Pal)

Stromgitarren seit mehr als 30 Jahren

Die Truppe zählt bereits 56 Lenzen. «Das fortgeschrittene Alter ist aber nicht sichtbar», sagt Präsident Urs Bieri. Die Vikinger feiern in diesem Jahr die Vorzüge von Botox, Liftings und Fettabsaugen. Das Fasnachtsmotto: «Schönheitsfarm faltenfrei». «Extra für die rüüdige Fasnacht entfliehen wir aus der Schönheitsfarm, um die Luzerner Gassen mit unserem Sound zu beleben», freut sich Bieri. Fotos von den neuen Kleidern und «Grinde» gibt’s noch keine. Und wie das Sujet aussieht, darf noch niemand wissen. Es wird erst am Schmudo verraten», – so lautet der Kodex.

Egal ob Bühne oder Strasse: Die Vikinger geben Vollgas.

Egal ob Bühne oder Strasse: Die Vikinger geben Vollgas (Bild: Heinz Pal)

Ihren typischen, elektrisch verstärkten Sound spielen die Vikinger seit ungefähr 30 Jahren. Der Prozess ging Schritt für Schritt und sollte später die gesamte Luzerner Fasnachtsmusik nachhaltig beeinflussen. Einzelne Mitglieder tauschten Posaune und Trompete gegen ihre Lieblingsinstrumente aus. Dass sie damit der Fasnacht einen entscheidenden kreativen Kick verpassen werden, war ihnen damals noch nicht bewusst.

Ein neuer Sound wird geboren

Es war 1971 – und die Gesellschaft war im Wandel: Der FCL steigt in die Nationalliga B ab, Kudi Müller wechselt zu GC, die Schweizer Bevölkerung stimmt für das Frauenstimmrecht, der Bahnhof Luzern geht in Flammen auf und auch das Casino Montreux brennt. Währenddessen spielen die legendären Rocker Deep Purple dort ihre neue LP ein und «Smoke on the Water» wird bald zum Welthit. Und an der Luzerner Fasnacht macht sich eine Gruppe der Vikinger daran, den bis dato monotonen Sound der Guggenmusigen aufzumischen. «Die meisten Musigen spielten Märsche. Das wurde irgendwie langweilig», erzählt Bieri. 

«Horden von Jungen und Mädchen in Ekstase.»

Urs Bieri, Präsident

Was die Vikinger damit auslösten, war Anarchie. Die Revolution der Luzerner Fasnacht konnte beginnen. «Andere Musigen rannten aus den Seitengassen heran, um zu sehen, wer denn da für diese neuen Töne verantwortlich ist», schwärmt Bieri. Es war etwas noch nie Dagewesenes: «Horden von Jungen und Mädchen in Ekstase», schwärmt der heutige Präsident. Fortan wurden die Vikinger von einer in Trance tanzenden Meute durch die Gassen begleitet und die Platzkonzerte gerieten zu musikalischen Happenings. 

1986: Schon damals mit elektrischer Gitarre unterwegs.

1986: Schon damals mit elektrischer Gitarre unterwegs.

Erfinder der «Chochi» 

Damals hatten die Vikinger − oder sie haben noch immer − prägende Figuren in ihren Reihen. Nicht ganz nebenbei sind sie auch für die Erfindung der «Chochi» verantwortlich, die heute in jeder Guggenmusig zur Standardausrüstung gehört. Unter der Leitung des Saxofonisten Urs Leimgruber hatten in den Siebzigern die Musiker Butsch Baumgartner und Fredy Studer die Idee, ihre Schlagzeuge auch an der Fasnacht einzusetzen, um endlich ihre Rhythmusmöglichkeiten auszuspielen.

Georg Lingg, Mitarbeiter bei einem Schlagzeughersteller in Nottwil, schweisste in einer Nacht- und Nebel-Aktion diverse Traggestelle zusammen. Sie wurden bestückt mit Snaredrum, Tom Tom, Becken und Glocken. «Natürlich hatten diese Gestelle viel zu viel Gewicht», sagt Bieri. Aber jeder Schlagzeuger schleppte bald darauf seine «Chochi» mit.

Mitte der Siebziger kam Fausto Medici zu den Vikingern. Und mit Fausto und seinen Begleitern wie beispielsweise Hansi Wobmann (immer noch Aktiv-Mitglied und Chef-Trommeler) kamen weitere, aus Fasnachtssicht unkonventionelle, musikalische Ideen.

Die Vikinger 2015 (Bild: Emanuel Ammon/Aura)

 

Die Vikinger waren die erste Fasnachtsformation mit Miles-Davis-Songs im Repertoire. «Autobatterie und Verstärker wurden auf einen Kinderwagen montiert mitgezogen», sagt Bieri. Später gab es immer mehr Equipment. Die Einflüsse der Vikinger kamen von Anbeginn vom Rhythm & Blues und dem Jazz. Aber auch Latino und Afro mischten sich dazu. Schliesslich war für den Namen Vikinger das Posaunenspiel von Papa Bue’s um Arne Jensen, Gründer der legendären Viking Jazzband, ausschlaggebend. 

«Völlige Hohlköpfe»

Noch heute sind die Vikinger die einzige Fasnachtsmusik in dieser Grösse, die elektrisch verstärkt spielt. In den Schmelztiegel verschiedenster Musiker gehören angefressene Fasnächtler, Künstler, Arbeiter, Studierte und Studenten (und auch «völlige Hohlköpfe», wie jüngst ein langjähriges Mitglied mit Augenzwinkern bemerkte). Das musikalische Niveau reicht von «sackstark-semi-professionell bis zum blutigen Anfänger» (ein paar Kostproben gibt’s hier). Alle zusammen lassen es in den Gassen ordentlich Krachen, wie etwa dieses Video dokumentiert. 

 

Viele Musiker, viele Meinungen

Doch so schön die musikalische Vielfalt sein mag, für viele Mitglieder der Vikinger hat sie auch eine Kehrseite: Es sei nicht immer einfach, all den verschiedenen Meinungen und Neigungen innerhalb der Gruppe gerecht zu werden, sagt Bieri. «Das ist vielleicht bei uns etwas schwieriger als bei typischen Guggenmusigen, weil bei uns nicht alle Mitglieder absolut angefressene Fasnächtler sind.» Es gebe solche, die ohne Vikinger nicht an die Fasnacht gehen würden.

«Uns verbindet noch heute die Freude an der Musik», so Bieri. Inzwischen sind bei den Vikingern schon drei Generationen gemeinsam an der Fasnacht unterwegs: Die jüngsten der rund 70 aktiven Mitglieder sind drei Jahre alt und der älteste 73. 

Auch auf Container kann man trommeln (Bild Emanuel Ammon)

(Bild: Emanuel Ammon)

Immer mehr Kommerz

Was hat sich in über fünfzig Jahren Geschichte an der Luzerner Fasnacht verändert? Die eingeschworene Truppe vermisst teilweise etwas Kreativität auf der Strasse. «Es gibt heute mehr Kommerz», beklagt Bieri. «Wie sehen immer grössere Menschenmengen, die alle in etwa gleich aussehen und zu Sound ab Konserve tanzen.» Die Vikinger waren einst Mitbegründer der Kulturfasnächtler – die jedes Jahr mit ihren aufwendigen Wagen und Kostümen zu begeistern wissen.

Aber «zum Glück» gebe es dann auch noch die alten, traditionellen Musigen. Interessanterweise wurden die Vikinger noch vor Jahren von Traditionalisten noch hie und da beschimpft; dass das doch keine Fasnacht mehr sei, was sie da treiben. Bestimmt: Die Zeiten ändern sich, die Fasnacht ändert sich, und die neue Avantgarde ist in den Luzerner Gassen vielleicht bald schon unterwegs.

Sie mögen, was wir schreiben? Dann teilen Sie diesen Beitrag doch auf Facebook. Das freut Ihre Freunde und hilft uns, bekannter zu werden!


Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon