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Barbara Gysel über Mut und Selbstkritik

Vorwärts fahren mit Rückspiegel – Polit-Diversität statt Monokultur

Mit Zari Dzaferi tritt am 17. Januar in Zug erstmals jemand zu den Regierungsratswahlen an, dessen Eltern in die Schweiz einwanderten. (Bild: wia)

Barbara Gysel nimmt die kanadische Regierung, «das vermutlich coolste Kabinett der Welt», als Referenz für Zug und die Schweiz. Sie sagt: Auch wir könnten unsere Vielfalt in der Regierung abgebildet haben, mit genügend Mut, Selbstreflexion und Selbstkritik.

Diversität in der Politik zu pflegen, gilt in der Schweiz je nach politischer Couleur als Wunschtraum oder als Hirngespinst, aber nicht als Realität. Anders in Kanada. Vielfalt in der Politik ist dort keine Utopie – etymologisch kein «Nirgendwo» – mehr. Mitte Oktober 2015 besiegten dort die Liberalen die amtierende konservative Partei von Premier Harper und lösten einen politischen Machtwechsel aus. Der neugewählte Justin Trudeau versprach in seiner Amtsantrittsrede im November, er werde ein Premier für alle Kanadier sein. Und zur Sessionseröffnung sprach der Generalgouverneur David Johnston von echtem Wandel, unterschiedlichen politischen Schwerpunkten der neuen Regierung in den Bereichen Klimaziele, Flüchtlingspolitik, Gleichberechtigung der indigenen Bevölkerung und von Diversität als Stärke Kanadas.

Grosse Versprechungen von Politikern während Wahlkampagnen und bei Amtsantritten sind nicht unüblich. In Kanada liess Trudeau aber den Worten Taten folgen. Der erste Coup: Das dreissigköpfige Kabinett setzt sich aus genau gleich vielen Frauen wie Männern zusammen sowie einer ganzen Menge «untypischer» MinisterInnen, darunter ein Querschnittgelähmter, indigene Vertretungen, Sikhs, Flüchtlinge, ein Ex-Astronaut, ein Millionär oder ein ehemaliger Busfahrer. Das widerspiegelt sich in zahlreichen Medienschlagzeilen: «Bunt, bunter, Kanadas Regierung» oder «Das vermutlich coolste Kabinett der Welt». Der Generalgouverneur betonte, dass, obschon im Jahr 2015 die Diversität des eingesetzten Kabinetts Aufmerksamkeit errege, Vielfalt für Kanada «nichts Neues» sei, sondern etwas, was Kanada ausmache.

So sieht die neue kanadische Regierung aus.

So sieht die neue kanadische Regierung aus.

(Bild: zVg)

Auch die Schweiz ist Einwanderungsland

Dies gilt auch für uns, für die Schweiz. Wir sind stolz auf unsere Vielfalt, unsere Sprachgruppen, unterschiedlichen Mentalitäten, die Achtung vor Minderheiten und friedliche Koexistenz. Auch ist mit dem Milizsystem die Vertretung unterschiedlicher sozioökonomischer Schichten mit Berufserfahrungen von der Akademikerin bis zum Weinbauer gegeben, wie die jüngsten Bundesratswahlen zeigen. Wie Kanada ist auch die Schweiz ein Einwanderungsland, Zug gehört zu den Kantonen mit den meisten Zugewanderten. Viele Menschen sehen es bei uns als Bereicherung, dass jede dritte Person der ständigen Wohnbevölkerung einen Migrationshintergrund hat. Doch geht es um die Repräsentation dieser Diversität in der Politik, müssen wir selbstkritisch sein, da es in mehreren Bereichen in der Schweizer Politlandschaft punkto Diversity hapert.

In der Geschichte des Kantons Zug waren von über 110 amtierenden Regierungsmitgliedern gerade mal vier weiblich.

Zum Beispiel beim Geschlecht: Frauen haben in der Schweiz nach den nationalen Wahlen 2015 im Nationalrat einen Anteil von 32 Prozent, deutlicher Nachholbedarf also. In der politischen Geschichte des Kantons Zug waren bisher von über 110 amtierenden Regierungsmitgliedern gerade mal vier weiblich, und Zug hat noch nie eine Frau nach Bern geschickt. Bei der Vertretung von Personen mit Migrationshintergrund in der kantonalen Regierung sieht es dunkel aus. Exakte Erhebungen gibt’s hierzu auch für das nationale Parlament nicht.

Fest steht indes, dass Personen mit Migrationshintergrund in der Schweiz zahlreiche Hürden zu überwinden haben, wollen sie in der Politik mitmischen. Beginnend mit dem fehlenden Bürgerrecht von nahezu einem Viertel der Schweizer Bevölkerung, über eher wenige Vorbilder, bis hin zur Tatsache, dass unter dem Etikett von vermeintlicher Diversität viele Kandidierende mit Migrationshintergrund schlecht aufgestellt und zuweilen als Listenfüllerinnen fungieren – was bei einigen Parteien durchaus auch Frauen passieren kann. Im Nachbarland Deutschland haben fünf Prozent der Abgeordneten im Bundestag einen Migrationshintergrund (2013), verglichen zum ausländischen Bevölkerungsanteil, der mehr als dreimal so hoch liegt.

Es geht mir aber nicht nur um ethnische Vielfalt – schliesslich wählen Migrantinnen ja nicht einfach Migranten – oder Geschlechterparität, Frauen wählen auch nicht automatisch Frauen: Es geht um eine vielfältige Vielfalt, die nebst Geschlechterparität, ethnischer, religiöser und Sprachen-Vielfalt auch Menschen mit Beeinträchtigungen oder unterschiedlicher sexueller Orientierung berücksichtigt, bis hin zu deren individuellen Lebensgeschichten, Erfahrungen und Gesinnungen.

Das neue Kabinett in Kanada zeigt mit seinen Ministerinnen und Ministern auf, dass es kein Ding der Unmöglichkeit ist. So ergeben sich in der Aufteilung der Ämter bei der Regierungsbildung des kanadischen Kabinetts interessante Querbezüge und eine Verflechtung von Kompetenz und persönlichem Hintergrund der Politikerinnen, was Inklusion sichtbar macht. Nicht ein Angehöriger einer ethnischen Minderheit übernimmt das Ministerium für Einwanderung und Multikulturalismus, sondern der ehemalige Chefökonom einer Bank mit grosser politischer Erfahrung, John McCallum. Harijit Sajjan, der bei Polizei und Militär Karriere gemacht hat und sich mit seiner Kopfbedeckung als Sikh zu erkennen gibt, übernimmt das Verteidigungsministerium.

Erfahrung zählt, nicht die Herkunft

Es zählt die Erfahrung, und nicht die ursprüngliche Herkunft. Aber natürlich hat die Zuteilung der Ämter nebst der Qualifikation auch eine symbolische Wirkung, wie auch im Falle der neuen Justizministerin Jody Wilson-Raybould, Führungsperson bei British Columbia First Nations, Anwältin und selbst Nachfahrin von Kanadas indigener Bevölkerung. Oder der ehemalige Astronaut Marc Garneau übernimmt das Ministerium für Transport, der Pensionskassenexperte und Millionär Bill Morneau mit seiner eigenen Stiftung für Bildung in Somalia und Sudan ist zuständig für Kanadas Finanzen, und Kent Hehr, der zufällig in einen Schusswechsel gelangte und seither im Rollstuhl sitzt und sich gegen Waffengewalt einsetzt, ist als neuer Minister für Angelegenheiten der Veteranen zuständig.

 

Natürlich müssen sich die Mitglieder der neuen Regierung Kanadas erst beweisen, und die ehrgeizigen und reformierenden Regierungsstrategien von Justin Trudeau werden nicht ohne weiteres und ohne Kritik implementiert werden. Es gibt bereits Widerstände etwa gegen sein Klimaprogramm oder die rasche Aufnahme von 25’000 syrischen Flüchtlingen bis im Frühling 2016. Das ist normal.

Mit Zari Dzaferi tritt am 17. Januar in Zug erstmals jemand zu den Regierungsratswahlen an, dessen Eltern in die Schweiz einwanderten.

Vielfalt bringt eben auch Reibung und Auseinandersetzung mit sich. Dessen sind wir uns auch hierzulande bewusst, und zu Recht stolz auf die demokratische Tradition der Kompromisse und der Konkordanz. Das Thema Vielfalt in der Politik wird in der Strategie des Regierungsrats 2015 – 2018 «Mit Zug einen Schritt voraus» leider nicht erwähnt. Dennoch tut sich diesbezüglich etwas im Kanton Zug. Linke und teilweise Liberale versuchen Diversität Rechnung zu tragen, beispielsweise tritt mit Zari Dzaferi am 17. Januar in Zug erstmals jemand zu den Regierungsratswahlen an, dessen Eltern in die Schweiz einwanderten (ähnlich wie Arnold Schwarzenegger, der aus Österreich stammte und in den USA kalifornischer Gouverneur wurde…).

Die SP-Fraktion in den eidgenössischen Räten umfasst nach dem Wahlherbst 2015 einen Frauenanteil von fast 60 Prozent und hat damit am meisten weibliche Vertretungen aller Parteien. Die Möglichkeiten für eine Abbildung der Diversität in der Schweiz sind in unserem demokratischen System durchaus gegeben. Von Vorbildern wie Kanada sind wir zwar noch weit entfernt, aber das kann sich ändern, wenn wir sowohl mutig wie auch selbstreflektierend und halt auch manchmal kritisch sind.

Schweizer Identität: «Denk mal!» statt Denkmal

Wer gegen Diversität ist, betreibt Zivilisationsverklärung. Zulassen und Pflegen von Vielfalt ist nicht nur soziale Demokratie, sondern eine Menschheitskultur, die nicht statisch, sondern dynamisch ist. Auf Aristoteles, der eines der Ur-Bücher der Politik verfasste, können wir uns dabei nicht berufen. Er bewertete Demokratie gleichauf mit Tyrannis und Oligarchie als entartete Staatsformen. In seiner «Politie» gelten Frauen, Kinder, Fremde und Sklaven nicht als gleichwertige Bürger.

Ein Blick zurück aufs Rütli wirft Schriftsteller Pedro Lenz in seinem neuen Film: «Bim Rütlischwur sind kei Secondos debi gsi, bim Rütlischwur sind kei Welsche debi gsi, si kei Arbetslosi debi gsi, si kei Fraue debi gsi.» Tatsächlich, am 27. November 2015 waren es gerade mal 25 Jahre her, seit auch die letzte Männerdomäne der Schweizer Demokratie das Frauenstimmrecht einführte. Nachdenken ist angezeigt. Der Zentralschweizer Lukas Niederberger erläuterte ein neues Projekt auf dem Rütli in einem Kurzfilm folgendermassen: «Aus diesem Ort wollen wir einen Ort machen, wo man sich die Frage vom Schweizer-sein stellt, wo auch die verschiedenen Menschen von der Schweiz und vom Ausland zusammenkommen, und sich Fragen stellen können über das Verhältnis von Tradition und Gegenwart und Zukunft, von Einheit in der Verschiedenheit; es soll ein Denk-Ort sein, es hat hier kein Denkmal, aber es soll ein ‹denk mal!› sein, ‹denk mal›, ‹denk mal nach›, ein Denk-Ort soll es sein.»

Ja, wir sollten nachdenken, wenn wir vorwärts kommen wollen. Zivilisation schaut mit dem Rückspiegel nach hinten, fährt aber vorwärts. Das ist Aufklärung. Leider gibt’s Verklärte, die nach vorne schauen – aber, Vorsicht, dauernd den Rückwärtsgang drin haben.

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