In die Ferien abheben – aber auf den Schienen
Herr und Frau Schweizer lieben das Reisen. Kein Wunder, liegt der heimische Jahresdurchschnitt bei über drei Auslandreisen. Dabei sollten gerade Luzerner eine Affinität für internationale Zugreisen haben.
Neulich musste Elias für einen Workshop nach Barcelona. Dies stellte ihn vor ein Dilemma: Einerseits schien eine Zugreise etwas kompliziert und andererseits sind momentan gerade innereuropäische Flüge angesichts der Klimakrise ziemlich bedeppert. Er entschied sich letztlich für den Zug und kaufte ein Ticket für 90 Euro ab Genf. Von den gut 15 Workshop-Teilnehmenden, alle aus der Schweiz, entschied sich genau einer ausser ihm dazu, nicht zu fliegen.
Er nahm also den acht Uhr Zug von Luzern nach Genf und stieg dort um auf den Zug nach Lyon. Diese Teilstrecke ist das schwache Glied der Reise. Fast zwei Stunden dauert die nur etwa 150 Kilometer lange Fahrt. Würde der spanische Zug bis Genf verkehren, könnte man wohl gut zwei Stunden Reisezeit einsparen. Immerhin hat man so in Lyon schön Zeit für ein Mittagessen. Von dort gings dann weiter im Tren Alto Velocidad direkt nach Barcelona – und das in unter fünf Stunden. Während der Reise konnte er seine Präsentation vorbereitet und dann das Feierabendbier praktisch am Strand von Sète geniessen.
Gleicher Zeitaufwand, aber bequemer
Beim abendlichen Austausch mit den Kollegen stellte sich heraus, dass die meisten gleich früh aufgestanden sind wie Elias. Zwar waren sie nur kurze Zeit in Bewegung, doch mussten sie zum Flughafen, meist in eine andere Stadt, dort einchecken und warten. In Barcelona organisierten sie sich alle zusammen einen Mietwagen, sodass alle sowieso erst abfahren konnten, als der letzte (massiv verspätete) Flug eintraf.
Dieses Beispiel zeigt einige Vor- und Nachteile des Zugreisens. Erstens relativiert es das Zeitargument, zweitens weist es darauf hin, dass der Weg Teil des Abenteuers ist und drittens offenbart es die Wichtigkeit eines gut ausgebauten Bahnnetzes. Vor allem die grenzüberschreitenden Linienführungen beeinflussen die Reise stark. Auch für Luzern ist dies relevant, eine Stadt, die heute trotz des hohen Touristenaufkommens kaum international angebunden ist.
Drei Arten von Reisenden
Es gibt drei Arten von Reisenden: Die Ökobewussten, die immer den Zug nehmen, die Ignoranten, die immer fliegen, und die Opportunisten, die Zeit und Geld (und allenfalls die Ökobilanz) bei jeder Reise neu abwägen. Letztere haben bemerkt, was den Vielfliegern noch nicht bewusst zu sein scheint: Die Bahn kann in Europa auf vielen Strecken bezüglich Zeit und Preis gut mithalten. Aus ökologischer Sicht schlägt sie das Flugzeug immer. Eine Studie kommt zum Schluss, dass der Zug aus der Schweiz in beliebte Destinationen (Paris, Berlin, Amsterdam, Hamburg, Mailand) fast immer günstiger ist.
Dies überrascht angesichts des Preisarguments vieler Vielflieger. Mittlerweile gibt es Plattformen, die mit den Buchungsportalen der Flugindustrie locker mithalten können. Zum Beispiel auf Trainline erhält man mit ein paar Klicks das günstigste Ticket für jegliche Verbindungen quer durch Europa.
Die Illusion der Zeit
Bei der eingangs geschilderten Reise nach Barcelona ist klar, dass man mit dem Zug etwas länger braucht. Für viele wichtigen Destinationen ist der Unterschied aber wesentlich kleiner – so zum Beispiel nach Rom, Paris oder London. Nach London dauert die Reise ab Luzern bisschen mehr als acht Stunden mit Umsteigen in Basel und Paris.
Die reine Flugzeit ab Zürich ist knapp zwei Stunden. Hinzu kommt eine Stunde von Luzern nach Zürich und das dasselbe wieder in London (wer schon mal in Heathrow gelandet ist, weiss dass es bis zur Unterkunft auch locker zwei bis drei Stunden dauern kann).
Als Luzern mehr konnte als Reisecars durchschleusen
Gerade für uns Luzerner sollten Zugreisen zum Selbstverständnis gehören, denn unsere Heimat hat eine historisch belebte und sogar international ausgerichtete Zugvergangenheit. Spätestens seit William Turners verzauberten Bilder von der Rigi erkannte Europa das Potenzial Luzerns als spektakuläre Tourismusdestination und als südlichste Ecke nördlich der Alpen (auf alten russischen Zugplänen teils markant hervorgehoben).
Im Herzen zwischen Nord- und Südeuropa entwickelte das schnell wachsende Städtchen eine mediterrane Identität und lockte Menschen mit nachhaltigem Interesse an den Vierwaldstättersee. «Wer in Luzern einfuhr, sollte das Gefühl kriegen, am Ziel angekommen zu sein», meint der Luzerner Geschichtsexperte Jürg Stadelmann.
Im Direktzug an die Côte d’Azur
In den späteren Jahren entwickelten sich auch spektakuläre Zugverbindungen. Eine davon verband das Hotel Sonnenberg über die Sonnenbergbahn sowie das Krienser Trämli an den Hauptbahnhof Luzerns und von dort direkt über eine Zugverbindung mit der französischen Côte d’Azur.
Heute gibt es ab Luzern nur noch gerade mal zwei internationale Zugverbindungen: Nach Mailand und in die Provinzstadt Konstanz. Von Nachtzügen ganz zu schweigen. Stattdessen setzt man auf einen Stundentakt zum Flughafen Zürich und Massentourismus mit Cars.
Wer nun denkt, Luzern hat eh nichts zu melden, der sollte zuerst Interlaken fragen. So fährt der ICE aus Berlin über Basel weiter nach Bern und ins Alpendorf Interlaken. Das ist nicht ganz grundlos, wie der Blick in die Geschichtsbücher zeigt. Nach dem Neubau des dritten Bahnhofs (Bahnhofbrand 1971) dominierte im Kanton Luzern eine konservative Verkehrspolitik, die, anstatt auf einen knotenpunkttauglichen Durchgangsbahnhof zu setzen, Luzern mit dem Beibehalten des Sackbahnhofs in die nationale Bedeutungslosigkeit entgleisen liess.
Ganz Europa in wenigen Stunden
Was bis heute anhält und durch platzverschwenderische Car-Terminals angereichert wurde, nimmt einem verständlicherweise ein wenig die Zugreiselust. Doch mit einem Umstieg in Basel oder Zürich lassen sich getrost wunderbare Destinationen (direkt) anfahren.
Unsere Favoriten sind der Nachtzug nach Belgrad, über Ljubljana und Zagreb, nach Wien und Budapest sowie nach Hamburg und Prag oder den Tag hindurch nach Berlin, Rom oder Paris – alles in ein paar Stunden Entspannung zu erreichen. Der Corona-Sommer steht vor der Tür. Beste Gelegenheit, Europa, sofern die Länder ihre nationalen Grenzschliessungen aufheben, mit dem Zug flexibel zu erkunden.
Wir wünschen viel Freude beim Abheben auf Schienen.
Blanca Achermann, 27.05.2020, 15:38 Uhr Bis vor Jahren noch gab es den «Trenotel», den Nachtzug von Zürich nach Barcelona. Selbst wenn man die Reise von Luzern nach Zürich einrechnet, war dies DIE Verbindung nach Spanien. Meistens waren die Plätze rar und man musste sich früh entscheiden bzw. früh buchen. Warum solche Möglichkeiten dann plötzlich gestrichen wurden, ist nicht nur mir ein Rätsel. Es war sooo praktisch. Wahrscheinlich fiel die Entscheidung in die Zeit, als die Vielfliegerei für wenig Geld aufkam. Aber das sollte doch eigentlich vorbei sein…
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