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Thomas Brändle

Wie Santa Claus das Christkind verdrängte

Wie steht's um die Geschichte des Santa Claus? (Bild: pixabay)

Es war beileibe nicht das schönste Weihnachtsfest, an das ich mich im Detail noch erinnern kann, aber mit Sicherheit das traumatischste meiner ganzen Kindheit.

Unsere katholische Tante Margrit meldete unmittelbar nach Bekanntgabe der Gästeliste ihre begründeten Zweifel an. Die Anwesenheit des reformierten Cousins Max sei ein sicherer Garant dafür, dass auch nicht nur der Hauch einer verwandten Art von Weihnachtsstimmung aufkommen werde, sondern im Gegenteil ein alles dominierendes Verbalgewitter zu Mythen und Fakten des wichtigsten Anlasses im Jahr eines Christen eine besinnliche Familienzusammenkunft im Keime ersticken werde.

Der unterhaltsame Zeitgenosse

Mein leutseliger Vater meinte darauf, sie solle nicht derart übertreiben, Max sei immerhin ein unterhaltsamer, intelligenter Zeitgenosse, der mit seiner unkomplizierten Persönlichkeit noch jede in Ehrfurcht erstarrte Runde erfrischt habe. Mutter teilte zwar Tante Margrits Bedenken, aber wenn der in jungen Jahren ins abenteuerliche Uruguay ausgewanderte Max schon mal in der Heimat sei, könne man ihn nicht ausgerechnet an Heiligabend sich selbst überlassen. Das sei in jedem Fall unchristlich. Und das chaotisch beendete Fest, als alle zusammen, eben auch Cousin Max, bei den Grosseltern im Toggenburg eingeladen waren, sei nun auch schon wieder eine ganze Weile her. Man könne in diesem Fall passenderweise sogar vorbringen, es sei längst verjährt. Bestimmt habe sich Max inzwischen besser im Griff, fügte sie wohlwollend hinzu.

«Ich hatte schon länger den Eindruck gehabt, dass die Sache mit dem Christkind nicht ganz schlüssig sei.»

Für meinen Bruder spielte Cousin Max damals noch keine grosse Rolle. Und ich kannte ihn im Grunde auch nur vom Hörensagen. Aber was ich gelegentlich über ihn zu hören bekam, beeindruckte mich doch immer wieder aufs Neue. Cousin Max schien weder Tod noch Teufel und schon gar nicht Tante Margrit zu fürchten.

Beide, Tante Margrit und Papa, sollten jedenfalls auf ihre Art Recht behalten.

Die Existenz des Christkinds

Ich hatte schon länger den wiederkehrenden Eindruck gehabt, dass die Sache mit dem Christkind nicht ganz schlüssig sei, aber für Diskussionen mit Tante Margrit fühlte ich mich noch nicht gewappnet. Ihrem beeindruckenden Fundus an Argumenten für die Existenz des Christkinds, das jedem braven Kind Geschenke bringt, konnte ich lediglich einige wacklige Fragezeichen entgegensetzen. Das war für einen Erstschlag erheblich zu wenig. «Skeptisch» und «distanziert» sind keine Adjektive, die man mit einem hübschen, blondgelockten Kind auf Anhieb in Verbindung bringt, aber meine näheren Verwandten taten es dennoch, worüber manche die Vermutung äusserten, dass ich wohl wie Cousin Max enden werde. Das wiederum erhöhte die Spannung meinerseits auf sein Eintreffen merklich.

Cousin Max hatte keine eigenen Kinder. Das muss man ihm zugutehalten, wenn er sich im elterlichen Lügengeflecht, das sich von Weihnachten zu Weihnachten verkomplizierte, gelegentlich verhedderte. Und aus dem er sich schliesslich an jener bemerkenswerten Weihnacht bei uns zu Hause zur Gänze befreite.

Santa Claus zum Hauptgang

Bis zum Hauptgang, es gab Filet im Blätterteigmantel, verlief der Abend still, gemütlich und betont rücksichtsvoll. Max sprach nur, wenn er etwas gefragt wurde. Zum Beispiel, ob er das Salz oder das Wasser rüberreichen könne. Ich betrachtete Max dabei etwas scheu über den Rand meiner Brille hinweg. Er war in der Realität kleiner und dünner als in meiner Vorstellung. Ausserdem hatte er schütteres Haar und einen kleinen Bauchansatz. Ich war ein wenig enttäuscht. Seine eigentliche Grösse entfalte sich erst, wenn er spreche, erinnerte ich mich an eine klärende Bemerkung meines Vaters.

Plötzlich sagte ausgerechnet mein kleiner Bruder ohne erkennbaren Anlass, dass bei seinem Schulkameraden Kevin-Christopher nicht das Christkind, sondern Santa Claus auf einem von Rentieren gezogenen Schlitten die Geschenke vorbeibringe, und zwar durch den schmutzigen Kamin ins saubere Wohnzimmer. Und das auch nicht an Heiligabend, sondern erst am Weihnachtsmorgen.

Es war augenblicklich mucksmäuschenstill. Man hörte nur den Ventilator der Küchenlüftung surren.

«Santa Claus ist eine Erfindung von Coca-Cola.»

Cousin Max setzte ein breites Grinsen auf, während Tante Margrit beinahe an einem ausgestochenen Herzen aus knusprigem Blätterteig erstickte. Meine Mutter fuhr erschrocken hoch, klopfte ihr kräftig auf den Rücken und Papa nutzte die allgemeine Unruhe, um unbemerkt seinen Teller wieder aufzufüllen.

«Santa Claus gibt es nicht! Er ist eine Erfindung von Coca-Cola», konterte Tante Margrit, als sie sich wieder einigermassen gefasst hatte, «ein schwedischer Heide hat diese Micky-Maus-Figur in den 30er-Jahren als Werbe-Ikone für diese grässliche, schwarze Zuckerbrühe entworfen.»

Papa warf Cousin Max einen väterlich ermunternden Blick zu. Als würde er ihm die Absolution erteilen.

Eine mitgetragene Erfindung

«Na ja, genau genommen ist das Christkind doch auch nur eine von der katholischen Kirche mitgetragene Erfindung», fühlte sich Max zwischen zwei Bissen zur Richtigstellung aufgefordert. «Santa Claus ist wenigstens der Nachkomme des heiligen Nikolaus, den es übrigens tatsächlich gegeben hat.»

Mein Bruder und ich sassen da wie versteinert. Wir hatten schon manch Imposantes über Cousin Max gehört, dass er aber Tante Margrit derart kompetent, furchtlos und unverfroren korrigierte, liess ihn in unseren Augen zum Helden unserer Jugend aufsteigen.

«Nikolaus verteilte das Vermögen seiner Eltern an die Armen, worauf die hysterische Geschenkespeisung wohlstandsverblödeter Kinder gründet.»

«Der heilige Nikolaus war zwar ein aufrechter Christ», parierte sie gehässig, «hat aber als Bischof aus dem italienischen Bari an Heiligabend trotzdem nichts bei uns zu suchen … oder zu bringen.»

«Zunächst war Nikolaus eigentlich Bischof von Myra, was in der heutigen Türkei liegt. Er verteilte das Vermögen seiner Eltern an die Armen, worauf heute die hysterische Geschenkespeisung wohlstandsverblödeter Kinder gründet», stellte Max klar, schenkte meinem Bruder und mir ein verschwörerisches Augenzwinkern und schob flink ein «Anwesende ausgenommen» nach.

Die Kapitulation von Tante Margrit

«Bist du jetzt fertig mit deinem Weihnachtsmärchen?», zeigte Tante Margrit erste Anzeichen von Kapitulation.

«Weihnachtsmärchen?!», erwiderte Max. «Hätten räuberische Kaufleute Nikolaus› Gebeine nicht nach Italien gebracht, gäb’s auch kein erdichtetes und von der Kirche gebilligtes Christkind.»

Mein Bruder hatte ob der neuen Erkenntnisse zu schluchzen begonnen. Ich selber versuchte die Tränen zunächst noch tapfer zurückzuhalten, während meine Mutter vermeintlich diskret und erfolglos versuchte, Max eine Auszeit zu signalisieren. Papa kaute erheitert an seinem dritten Stück Schweinefilet.

«Ab 1900 übernahmen die Katholiken das evangelische Kuckuckskind.»

«Zwar behängten bereits die Römer ihre Räumlichkeiten zu Festtagen mit Lorbeeren und Mistelzweigen, aber der geschmückte Baum wurde erstmals 1521 in einem Rechnungsbuch der Humanitären Bibliothek Schlettstatt erwähnt, wonach einem Förster vier Schillinge bezahlt werden mussten, weil der ab dem Thomastag in besonderem Masse auf die Bäume aufzupassen hatte. Die katholische Kirche, als grosser Waldbesitzer natürlicher Widersacher dieses aufkommenden heidnischen Brauches, sah darin nur eine weitere Breitseite jenes unseligen Reformators aus Eisleben. Martin Luther, Gegner jeder Art von Heiligenverehrung, galt bald nicht nur als Vater aller Christbaumbrände, sondern brachte es auch fertig, dass die Weihnachtsbescherung vom 6. auf den 24. beziehungsweise 25. Dezember verlegt wurde. Und den heiligen Nikolaus ersetzte er gleich noch durch das elsässische Christkind. Ab 1900 übernahmen die Katholiken dann auch dieses evangelische Kuckuckskind. Und erst danach flog Coca-Colas Santa Claus vom Himmel», überrollte Cousin Max Tante Margrit wie eine Panzerkompanie, wonach sie tatsächlich platt wie eine Flunder in den Stuhl zurückzusinken schien.

Der Rundumschlag zum Dessert

Mein Bruder war inzwischen lauthals flennend in sein Zimmer geflohen. Das war zu viel der ungeschönten Wahrheit auf einmal. Mich aber erfasste Max› eloquenter Rundumschlag wie eine Erleuchtung. Meine schon länger gärenden Zweifel hatten Humus bekommen.

Tante Margrit wischte sich mit gesenktem Kopf die Mundwinkel mit der Serviette ab, erhob sich zitternd und verliess stumm das Esszimmer, ohne jemanden eines Blickes zu würdigen. Sie hatte ihre durch zwei Generationen hindurch verteidigte Deutungshoheit über das Weihnachtsfest an einem einzigen Abend noch vor dem Dessert – Himbeermousse mit Schokoladensplittern – verloren.

«Habe ich was Falsches gesagt?», fragte Max mit gespielter Unschuldsmiene in die Runde.

Während mein Vater Cousin Max› Bemerkung mit einem kurzen, saloppen Schulterzucken quittierte, schob Mutter mit einem Löffel die verschiedenen Speisereste auf einen einzigen Teller, sah mit Tränen in den Augen zu mir rüber und erkundigte sich flüsternd, wie es mir gehe.

«Gut, Mama», antwortete ich befreit. «Aber ich hätte da noch eine Frage.»

Sie warf einen hilflosen Blick zu Max. Der runzelte nur die Stirn.

«Was für eine Frage, Junge?», klinkte sich Papa dazwischen.

Ich nahm all meinen Mut zusammen: «Wie ist das mit dem Osterhasen?»

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