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Herr K im Frauenkloster

Wer sucht, der findet

Steinbrüche von Preonzo. (Bild: kaz)

Herr K ist im Zisterzienserinnenkloster in seiner selbstgewählten Retraite. Ein Frauenkloster – er als Herr. Einer mit allem Drum und Dran, mal weniger, mal mehr. Schliesslich ist auch er bloss ein Mann. Schon nach einer Woche erlebt er eine wundersame Verwandlung. Vom scheinbar unbeteiligten Mitbewohner wandelt er sich zu einem kritischen Beobachter.

Wer sucht, der findet – das sagt sich so leicht, aber hast du schon einmal den Weg aus einer Depression gesucht? Eine Depression bewirkt, dass du überhaupt nichts mehr machen kannst ausser nachdenken.

Nachdenken, nachdenken, nachdenken.

Und du merkst es am Wort, dass es sehr nach «zu spät» klingt – nachdenken kommt NACH dem Denken. Das muss dir zuerst einmal aufgehen! Erst dann bist du endlich am Denken. Das kann schon helfen.

7 mal 77 Meter über Meer

Die 7 ist eine schicksalsträchtige Zahl. Es gibt nichts im Leben, was keine Bedeutung hat, aber so bedeutungsvoll ist selten etwas.

Genau 7 Zisterzienserinnen sind es, die da oben auf einem Felsen 7 mal 77 Meter über Meer unsichtbar für die Aussenwelt und die ruhesuchenden Bewohner auf Zeit hinter Jahrhunderte alten Mauern ihr Tagwerk verrichten. Sie stehen um fünf Uhr auf und verschliessen um 21 Uhr die Zellentür. Genau 7 Mal am Tag versammeln sie sich zum Gebet. Zweimal ist ihre Andacht öffentlich, um halb 7 Uhr morgens und zur Vesper. Dann verziehen sich die Nonnen in das obere Gestühl, durch eine in die Klostermauer eingelassene hölzerne Tür und eine enge Balustrade am Seitenschiff mit der Apsis verbunden, damit sie zu jeder Zeit der Messe beiwohnen können, ohne gesehen zu werden.

Nur das Kirchenschiff selber mit den 14 Bänklein (2 mal 7) ist für Fremdlinge zugänglich. Meistens kommen diese keuchend den Berg hinaufgekraxelt oder etwas weniger ausser Atem von der Seilbahnstation her über die steilen Stufen in den Klosterhof, der eine grossartige Aussicht über die Riviera bietet.

Links kann man die Burgen von Bellinzona erblicken, rechts die Steinbrüche von Lodrino, geradeaus über die Dächer von Claro hinweg den Felssturz von Preonzo und das zum Wandern einladende Val Moleno. Berge und Täler, so weit das Auge reicht.

Die Kirche steht am Ende des Klosterhofs, durch eine kleine Seitentüre betretbar, aber man merkt sofort, dass das nicht der Haupteingang sein kann, so bescheiden wirkt er. In der Tat befindet sich dieser auf der Westseite, über eine geschwungene Granittreppe erreichbar, die man erklimmt, wenn man zuvor eine schmale Treppe hinuntergestiegen ist. Kein Wunder, kommen die meisten Besucher zur Seitentür rein – das ewige Auf und Ab ist im Alter nicht beliebt.

Die Apsis ist den Klosterfrauen vorenthalten. Die meiste Zeit wenigstens. Nur bei hohen Feiertagen erinnert sich die katholische Kirche gern daran, dass Frauen bloss ein Rippengewächs sind und ein richtiger Mann hermuss, um die Leviten zu verlesen. Diese Männer haben stets Röcke an.

Du kannst dir vorstellen, welche Gedanken Herrn K durch den Kopf gehen.

Ein mannshohes Gitter trennt das Seitenschiff von der Apsis mit dem erhöhten Altar. Eine Seitentür führt in den schönen Kräutergarten mit einer Reihe Bienenhäuschen. Genau 7 an der Zahl, aber das kann kein Aussenstehender wissen, da sich Zisterzienserinnen niemals verplappern.

Die Distanz zur gegenüberliegenden Tür beträgt genau siebzehn Meter. Man erkenne die Symbolik! 17 = 1 Jesus + sieben Bräute! Wenn man den Anteil der weiblichen Christenheit auf einen Tausendstel der Erdbevölkerung festlegt und zusätzlich noch einen Sicherheitsfaktor von weiteren Tausend hinzunimmt, ergibt das 1 Million Bräute Gottes auf Erden.

Nichts passiert

Warum ich dir alles so genau erkläre mit dem Grundriss des Klosters und den vielen Zahlen? Ein Kloster hat sehr viel mit einer Depression zu tun, dieses Abgeschlossene, Ausweglose. Und Zahlen sind etwas Definitives. Im Grunde genommen ist es aber ganz simpel:  Der Eingang ist der Ausgang.

Da liegt Herr K nun 7 mal 77 Meter über Meer und nach einer Woche wird ihm bewusst, wie wenig passiert. Im Grunde genommen passiert gar nichts. Er steht jeden Morgen mechanisch auf, als ob er eine eingebaute Schaltuhr hätte. Plötzlich fehlt ihm der Stress, der Antrieb von aussen. Mein lieber Herr K, merkst du denn nicht, dass du endlich dein wahres Leben entdeckst?

Denk weiter, Herr K, denk weiter!

Ein Peitschenknall zerreisst die Zusammenhänge seines Gedankengangs und er wird förmlich aus seiner Lethargie hinauskatapultiert. «Was machst du in einem Frauenkloster?», würde seine Mutter Rosmarie ihn fragen, wenn sie denn noch leben würde.

Eine schleimige Frage, verklebt mit den zähen Fäden der Vergangenheit, doch Herr K ist daran, sich aus diesem Spinnennetz zu befreien. Sicher fragst auch du dich schon die ganze Zeit, auch wenn deine Frage allgemeinen Charakter hat:

Was macht ein Mann in einem Frauenkloster?

Dazu musst du etwas von Zusammenhängen verstehen, von Politik, von Geschichte, von Religion, aber wir wollen nicht gleich ins Jahr 800 nach Christus zurück, als Karl der Grosse in Aachen vom Papst zum Kaiser gekrönt wurde, obwohl das schon alles erklären würde.

Man kann auch kurz und bündig zusammenfassen, wie sich die Geschichte wandelt.

Kirche des 21. Jahrhunderts. (Bild: kaz)

Keep it simple: ohne – mit – trotz – gegen – ohne

Das Symbol unserer christlichen Religion sind die Kirchen. Natürlich zählen auch Klöster und andere religiöse Bauwerke dazu. Der Mensch lebte ohne Kirchen, dann mit, dann trotz, dann gegen und am Schluss wird er wieder ohne Kirchen leben.

Diesen Wandel erleben wir mit allen Symbolen. Nehmen wir einmal das Geld! Wir befinden uns auf der Schwelle zur bargeldlosen Zeit. Zinseszinsrechnungen aus Pestalozzis Zeiten sind bald wieder gleichermassen aktuell, nur mit anderen Vorzeichen. So muss es sein, damit die Reichen immer reicher werden können. Wir sind in einer Zeit angelangt, in der die Blüten des Fortschritts nicht mehr von allen gepflückt werden können. Da reicht es nicht mehr, wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt.

«Oh, preist den Herrn!»

Vorbei die Zeiten, als die Angst vor dem Fegefeuer die Klöster unantastbar machten und die Kirche durch Ablässe reich wurde. Ein glückliches Leben im Jenseits war käuflich, wenn man nicht die Entbehrungen eines gottesfürchtigen Lebens im Diesseits auf sich nehmen wollte. Jetzt interessiert sich niemand mehr fürs Jenseits, der das Geld zu seiner Religion erklärt hat.

Die Zeiten haben sich geändert – das Imperium schlägt zurück. Gewinnorientiert wirtschaften, heisst die Devise, und das Frauenkloster vermietet Zellen auf Zeit.  z&z, das klösterliche b&b.

Zu diesem Zweck wurde das fünfstöckige Nebengebäude total saniert und bietet jetzt Unterkunft für ein Dutzend vorwiegend männliche Alltagsflüchtlinge. Frauen können sich eine bewusste Auszeit in den allermeisten Fällen überhaupt nicht leisten. Sie haben dazu keine Zeit. Zu viele Probleme, die ungelöst sind. Zu viele Überlegungen wie: «Wer bringt die Kleine zu Bett? Wer tröstet den Bub, wenn er weinend vom Kindergarten heimkommt, weil ein sozial herausgefordertes Gschpändli ihn grundlos beleidigte und sein sensibles fünfjähriges Ich in Aufruhr brachte? Wer kümmert sich um die Älteste? Du kannst doch nicht von einem 13-jährigen Teenager erwarten, dass er plötzlich Mutterpflichten erfüllt! Und wer geht mit dem Hund spazieren?»

Siehst du! Deshalb kann er K mit Hunden nichts anfangen. Sie verursachen nichts als Probleme.

Nein, eine Frau, die dringend eine Auszeit braucht, macht sich nicht zuvor im Internet schlau, wo es die preiswertesten Angebote gibt. Medizinisch angeordnete Auszeiten sind sehr teuer und dauern in der Regel länger. Das haben sich auch die Zisterzienserinnen gedacht. Wenn sie nämlich nicht sprechen, bedeutet das noch lange nicht, dass sie nicht denken. So verkaufen sie die klösterlichen Entbehrungen zu einem hohen Preis.

Sie bieten karge Zimmer, harte Matratzen, Trinkwasser aus der hauseigenen sagenumwobenen Quelle. Sogar Gratisarbeit muss bei einem Aufenthalt auf dem Felsen geleistet werden, beim Sortieren und Reinigen der uralten Bücher, noch von Hand geschrieben. «Der Name der Rose» lässt grüssen.

Mathematik der Sprache

Am 7. Tag seiner geplanten dreiwöchigen Retraite auf 7 mal 77 Metern über Meer liegt Herr K auf seiner harten Matratze und starrt zur Decke, ohne zu denken.

Und da kann er ihn fassen, den Gedanken: Was macht er hier? Schon seit der ersten Woche wird er von dieser Frage geweckt, sie beschäftigt ihn Tag und Nacht. «Was mache ich hier?»

Er versucht, mittels Mathematik die Frage zu lösen, technisch zu denken und die Technik der Sprache ist die Grammatik. Die hat er immer schon geliebt. Kein Fall war ihm zu viel, um einen Sachverhalt möglichst korrekt auszudrücken, und du kannst dir sehr gut vorstellen, wie es Herr K in der Schulzeit mit Gedichten hatte. Die hielten seiner analytischen Denkweise selten stand, wenn nicht gerade der alte Goethe das Rad wechselte.

Die Frage, die ihn beschäftigte, bestand aus vier Wörtern und er änderte viermal die Betonung.

WAS mache ich hier? Betonung auf dem ersten Wort. «Keine Ahnung, was ich hier mache!», weiss Herr K inzwischen, sonst müsste er sich diese Frage ja nicht immer wieder stellen. Vielleicht ist er ja auch gerade deshalb hier, damit das ewige Sich-Selber-Infrage-Stellen ein Ende hat.

Was MACHE ich hier? Das ist einfach, schon nach einer Woche völlig klar: Ich mache jeden Tag dasselbe. Ich mache so gut wie nichts. Bedeutungslos ist diese Frage, vollkommen bedeutungslos.

Was mache ICH hier? überlegt er und wird nervös.

Des Pudels Kern

Was mache ICH hier?

Im «ICH» liegt der Hund begraben! – Ein Wetterleuchten erhellt seine Überlegungen.

Weil ich mich zu wichtig nehme? – streift eine Frage sein Gehirn.

Weil ich nicht weiss, was mit meiner Zeit anzufangen? – blitzt es.

Weil ich keinen Sinn im Jetzt finde? – kneift es ihn.

Weil ich nichts Besseres zu tun habe? – durchbohrt Herrn K eine weitere Möglichkeit und er wird unruhig. Er steht kurz vor dem Ziel einer wichtigen Analyse.

Was mache ich HIER? Da fällt der Groschen, da schlägt der Blitz direkt in seinen Kopf ein. HIER – im Frauenkloster! Ausgerechnet er, der mit Klöstern noch nie etwas anfangen konnte und auch zu Frauen eine zwiespältige Beziehung hatte. Er verehrte sie, solange sie ihm nicht zu nahe kamen.

Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er sich in die Höhle seines Löwen begeben hatte. Er musste wissen, wie etwas entsteht, um es zu überstehen.

Kirche des 21. Jahrhunderts. (Bild: kaz)

Recouler pour mieux sauter

Herr K badet in grammatikalischen Formeln, dass es eine wahre Freude ist, ihm dabei zuzuschauen. Seine Stirn runzelt sich angestrengt, aber nicht verzweifelt. Er bekommt einen leichten Silberblick, wird von einer Angespanntheit ergriffen, die ihn einen Moment bewegungslos macht, und dann dünkt es einen, dass eine unsichtbare Sehne losgelassen wird und sein ganzer Körper wird von einem unbändigen Bewegungsdrang erfüllt. Das ist ein diffiziler Moment, in welchem er seine Geistesblitze abzuschiessen beginnt. Man muss jetzt sehr behutsam mit Herrn K umgehen, damit er die Pfeile nicht gegen sich selber richtet und am Ende noch vom Felsen stürzt.

Am Morgen des 14. Tages rennt Herr K ins Tal, praktisch ohne den Boden mit seinen Füssen zu berühren, weil er dort eine Idee blinken sieht. Im Tal angelangt, findet er sein Ziel nicht und rennt ins Kloster zurück, um den Klosterfrauen mitzuteilen, dass er wieder hier sei.

Aber mit wem sprechen, wenn niemand da ist. Und durch die Holztrommel mit der wachhabenden Zisterzienserin zu sprechen, die Honigdienst verrichtet, will er auch nicht.

So fliegt er mit gepacktem Rucksack wieder ins Dorf hinrunter. Rennen kann man dem schon fast nicht mehr sagen, so schnell ist er unterwegs und das Gewicht des Rucksacks gibt ihm zusätzlichen Antrieb.

In der Dorfbeiz kann er sein Handy aufladen und ruft seinen besten Freund an, seinen Nachbarn, mit dem er immer noch per Sie ist. Aber das soll sich bald ändern, wenn sein Nachbar ihn abholen kommt.

Bei der Begrüssung oder spätestens auf der Heimfahrt.

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