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Eindrücke aus einer 11-Millionen-Stadt

Viel öffentlicher Verkehr ist niemals verkehrt

Busfahrt zum Stadtstrand von Chorrillos. (Bild: Katja Zuniga)

In einer Riesenstadt wie Lima wäre der Verkehr längst zum Erliegen gekommen, wenn sich jeder eine Privatkarosse leisten würde. Eindrücke eines Touristen aus Europa.

Ich trete vors Haus und bin in einer Wolke. Fahl drückt die Sonne durch eine Art Hochnebel. Brechts Herr Keuner wünschte, aus dem Haus tretend, ein paar Bäume zu sehen, denke ich. Tatsächlich stehen da einige auf dem Mittelstreifen der langen Avenida, als kärgliches Zeugnis guten Willens Richtung Lebensqualität zu einer verdünnten Allee geordnet. Sechsspurig rast der Verkehr an dem unentschlossen ins Sonnenlicht blinzelnden Zeitgenossen vorbei, der Küste entgegen. Die kilometerlangen Intervalle sind in stossweiser Bewegung begriffen und versiegen alsbald routiniert im rituellen Powernap. Die Lücke zwischen Aufbruch und Kurzschlaf gleicht dem mechanischen Rhythmus einer Pendeluhr, und genau wie diese rhythmisiert sie den Fluss der Zeit zum immergleichen Wechselspiel. Zum Warten aufs Aufwachen und aufs regelmässige Verharren in Leblosigkeit.

Ein Taxi fährt auffällig bis aufdringlich auf mich zu, bremst und schleicht dem Trottoir entlang. Ich mache eine abweisende Handbewegung, worauf es Fahrt aufnimmt und die Spur wechselt. Jetzt trete ich entschlossen auf die Strasse hinaus, wo ich ein geöffnetes Wagenfenster ausgemacht habe. Das muss ein Colectivo sein. Und tatsächlich erscheint der Kopf des Fahrers in der Öffnung und ruft mir einige Stationen entgegen, die er abzufahren gedenkt. Der  Beifahrersitz und ein Platz im Fond sind besetzt, daneben gibt es noch zwei weitere Plätze. Schnell, schnell! Ich reisse die Tür auf und lasse mich ins Innere fallen.

Was kostet es bis Miraflores? Zwei Soles. Ich strecke dem Fahrer eine Münze entgegen, die er ohne hinzusehen packt. Denn jetzt setzt sich der Tross in Bewegung. Wir wechseln die Spur und preschen in eine Lücke vor uns. Es hupt energisch, aber da haben wir schon wieder die Spur gewechselt und versuchen es mal linksbündig. Der Mann auf dem Vordersitz nimmt seinen Monolog wieder auf. Er scheint seine Rolle als Stammtischunterhalter zu lieben, auch wenn sein Publikum stumm bleibt und nur der Fahrer sich ab und zu ein beifälliges Grinsen abringt.

An der nächsten Ecke steige ich aus, sagt die Frau neben mir. Der Fahrer fährt rechts ran und ruft aufs Trottoir hinaus, seine Route anpreisend, die Tür öffnet sich, die Beifahrerin springt hinaus und stöckelt dem Randstein entgegen. Ich rücke zur Seite, denn eben hat sich ein junges Paar auf den Rücksitz plumpsen lassen. Wo fahren Sie hin? Gut, bis da und da kommen wir mit.

Allerhand fahrender Untersatz

Ich hätte auch einen Microbus nehmen können. Ich hätte einige Meter gehen müssen, bis eine Traube von Passanten eine Haltestelle markieren würde. Es hätte sich nur um Minuten gehandelt, bis ein halbvoller Kasten quietschend auf uns zugerattert wäre. «Vorwärts, los!», hätte die Busbegleiterin gelärmt, ihre Route wie ein Eisverkäufer anpreisend. «Baja, baja!», hätte sie die Aussteigewilligen hinauskomplimentiert. Nach einer Weile hätte sie die Herumstehenden mit «paisaje, paisaje!» zum Zahlen gedrängt, ohne den Dialog mit dem Fahrer zu unterbrechen. Ihre scherzhaften Sticheleien sind ansteckend und die Stimmung im Bus ist aufgeräumt. Wohlwollend akzeptiert man den ruppigen Fahrstil der beiden, die Marktschreierin turnt auf den Stufen vor der geöffneten Tür herum und lehnt sich weit hinaus.

Ich hätte auch den ordentlichen, streckengebundenen Kursbus nehmen können. Als einer der wenigen, die keine Monatskarte haben, hätte ich die Kontaktkarte des Fahrers ausgeliehen bekommen, der diese, nachdem ich die Schranke passiert hätte, energisch zurückfordern würde. Oder ich hätte, besonders vornehm, ein Taxi nehmen können. Taxis sind schwarz wie alle Autos, und immer ist die Karosserie irgendwo angekratzt oder eingedrückt, hängt die Stossstange herab oder sonst etwas. Defekte Radlager und verbeulte Pneus verursachen einen Schlingerkurs, was aber niemanden ernsthaft beunruhigen kann.

Neue Autos gibt es hier nicht, alle sind mindestens vier Jahrzehnte alt. Was in Kuba die Amerikaner hermachen, das präsentiert sich hier in Lima als die ganze Palette der japanischen Produktion seit 1950. A propos Taxi: kein Taxifahrer wollte uns in den verruchten Stadtteil im Norden bringen, wo die Überlandbusse zur nördlichen Küste zu finden sind. Schliesslich gelang es uns – mir und meiner spanisch sprechenden Begleiterin – dennoch, zu einem zahlbaren Tarif zu der Estacion an der Ausfallstrasse zu gelangen. Dort war allerdings kein Sammelpunkt von Bussen zu sehen, eine zentrale Busstation schon gar nicht.

Auf Nachfragen hin streckte uns ein offiziell wirkender Fahrkartenverkäufer zwei Scheine entgegen und wollte unsere Namen wissen, um sie wichtigtuerisch zu notieren. Nachdem er uns zu einer Haltestelle einige Strassen weiter geführt und wild gestikulierend auf eine angebliche Haltestelle verwiesen hatte, brauste prompt ein klappriges Gefährt heran. Er rief dem Buschauffeur im Befehlston einige Worte zu und tat so, als hätte er uns einen gewaltigen Vorteil verschafft. Im Bus merkten wir dann, dass die erworbenen Tickets gefälscht und ungültig waren. Aber die Abfahrt hatten wir jedenfalls geschafft.

Elf Millionen leben in der Area Metropolitana der Hauptstadt Lima. Der ÖV funktioniert. Ein eigenes Automobil können sich nicht alle leisten. Niemand fährt allein herum. In den slumartigen, auf Sand gebauten Wüstendörfern der Umgebung gibt es keine Quartierstrassen. Man feilscht um den täglichen Fahrpreis und improvisiert sich durch. Beim Umsteigen gibt es keine Wartezeiten, der nächste Anschluss ist schon da oder kommt bestimmt.

Pannen gibt es eigentlich nicht

Eines Tages fuhren wir südwestlich bis an die Ränder der Stadt. Die Kontrolleurin warnte uns, dass wir mehr bezahlen müssten und dass die Fahrt mindestens eine Stunde dauere. Der kleine Bus holperte durch die Vorstadtquartiere, leerte sich zusehends und hielt schliesslich am Fuss einer steilen, schnurgeraden Strecke überraschend an. Das sei nun die Endstation, beschied uns der Fahrer. Das ziellose Drauflosfahren dieser Gringos amüsierte ihn. Er würde erst in einer Viertelstunde zurückfahren, meinte er. Er wohne ganz in der Nähe, und wenn wir wollten, würde er uns gerne zeigen, wo er lebe. Dafür hatten wir allerdings kein Musikgehör. Zu sehr misstraute meine Begleiterin dieser Art von Einladungen, mit denen sie vor Jahren schlechte Erfahrungen gemacht hatte.

So nahmen wir denn wieder Platz, und der Fahrer lümmelte sich hinters Steuer. Er betätigte den Anlasser, aber ausser einem wiehernden Geräusch meldete sich gar nichts. Irgendetwas war defekt in diesem Motor. Wo, wie und wohin sollten wir nun umsteigen? Der Fahrer aber löste die Handbremse und liess unser Gefährt rückwärts den steilen Hang hinabrollen. Wir kamen in einer Querstrasse zum Stehen. Um von dort auf die grössere Strasse zu gelangen, auf der wir gekommen waren, musste jemand schieben. Wir beide stemmten uns also gegen das Heck. Zwei Männer, die uns beobachtet hatten, packten mit an, und bald einmal zitterte der Bus im freien Fall bergab. Der Fahrer legte einen Gang ein und liess das Kupplungspedal los, der Motor sprang an und ich auf.

Zufrieden und unaufgeregt wartete der Reiseleiter, bis wir die Plätze eingenommen hatten. Ich überlegte, wie er das Gefährt wohl nach dem nächsten Abschalten wieder flottmachen würde. Möglicherweise musste die Fahrt immer an dieser steilen Endstation zum Stillstand kommen, wo ein Anrollen eben mit geringem Aufwand zu schaffen war.

Der ÖV in Lima funktioniert.

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