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Worüber sprechen wir (nicht)?

Über Sterblichkeit

Wir sprechen über Pandemie, Virus, Übersterblichkeit – doch auch über Sterblichkeit? (Bild: pixabay) (Bild: pixabay)

«Übersterblichkeit». Für mich definitiv mein Vorschlag für das Unwort des Jahres 2020. Ich bin sterblich, ja. Wie alle. Aber, bin ich übersterblich? Und falls ja, ab wann, seit wann? Wer ist es noch? Mit mir? Vor mir? Nach mir? Wer nicht?

Ich gebe zu, ich habe ein Problem mit diesem Wort. Aber warum eigentlich?
Sterblich sind wir alle. Davor können wir uns nicht schützen. Vor Übersterblichkeit schon.

Ah, langsam begreife ich, verstehe ich. Das Wort und mein Problem damit.
Wir können, wir sollen, wir müssen uns jetzt schützen vor unserer Übersterblichkeit und der aller anderen. Aber weshalb? Damit niemand überstirbt? Oder geht es darum, darüber zu reden statt über unsere Sterblichkeit?

Vermeidungstaktik

Wie soll ich mich erklären? Am besten damit. Schauen wir zusammen ein Heftchen an: Wieder hat ein anderer Depp im Suff eine Frau grün und blau geschlagen, hier die Bilder dazu. Mit grün und blau liegen Sie dieses Jahr übrigens voll im Trend, erst recht mit der Paperbag-Hose von Louis Bitcoin. Was, Sie kennen dieses superleckere Svickova-Rezept nicht – Svickova kennen Sie auch nicht – am besten gleich ausprobieren.

Dann natürlich die neueste Diät, so gelingt Abnehmen garantiert. Wie wir aus sicheren Quellen wissen, ist die friaulische (oder hydraulische, egal) Prinzessin Miruna Matata wieder schwanger. Die Schlagersängerin Salamandra – sie soll ja ein Mann sein – verrät uns ihr süsses Geheimnis. Das Promipaar xy hat sich getrennt, nein, die sahen doch so toll aus zusammen. Tja, da sieht man’s mal wieder, auch bei denen läuft's nicht immer rund.

Sterben ist eine statistische Grösse

Sehen Sie, genau so läuft's. Nur nicht übers Sterben reden. Todesanzeigen gibt's zum Glück nur in Zeitungen. Bitte schnell weiterblättern. Sind die eigentlich auch schon online? Nicht die Zeitungen, die Todesanzeigen.

Übersterblichkeit. Ha, da ist es wieder, dieses Unwort am Unort.
Woher kommt es eigentlich? Aus der Statistik, logisch, LUSTAT und Co.
Sterben ist eine statistische Grösse. Mehr nicht? Ist das so?

Zahlen, Zahlen, Zahlen

In den letzten Wochen und Monaten konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren. Über so vieles haben wir gelesen und geredet. Über Corona natürlich, rauf und runter, die gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen, die physischen und psychischen Folgen, den Lockdown, Shutdown, die Härtefälle, den Reproduktionswert, die Milliarden, die Fallzahlen, Zahl der Infizierten, Spitaleinweisungen, Gestorbene. Zahlen, Zahlen, Zahlen. Darüber haben wir geredet.

Aber nicht über das Sterben. Oder täusche ich mich? Haben Sie vielleicht doch? Wir müssen reden. Lernen, wieder darüber zu reden. Über Sterblichkeit, nicht über Übersterblichkeit.

Es heisst nicht umsonst, dass die Lebenden den Toten die Augen schliessen. Und die Toten sie uns öffnen für …

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3 Kommentare
  • Profilfoto von Adrian Hürlimann
    Adrian Hürlimann, 28.02.2021, 23:10 Uhr

    Dem kann ich nur zustimmen, lieber André! Thematisiert wird das Sterben allenfalls von kirchlicher und religiöser Seite, zB in den beiden Radiosendungen, die srf 2 Kultur jetzt gestrichen hat, zugunsten von Netz-Sauglattismus – ganz wie Du es beschreibst, als Verdrängungungsoperation.
    Freut mich, dass es Kommentare gibt – das ist bei Zentralplus leider nicht oft der Fall. Vielleicht aus ähnlichen, konsumaffinen Gründen…

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    • Profilfoto von André Winter
      André Winter, 02.03.2021, 15:59 Uhr

      Werter Adrian, danke Dir für deine Rückmeldung. Zum Thema gäbe es sicher noch mehr auszutauschen. Wer weiss, vielleicht einmal im «echten» Leben. Mit lieben Grüssen André

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  • Profilfoto von Daniel Steiner
    Daniel Steiner, 27.02.2021, 11:51 Uhr

    Was für ein treffender Artikel. Vielen Dank dafür

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