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Martina Clavadetscher

Über die aufrichtige Lüge

(Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Gleich zu Beginn möchte ich Ihnen mitteilen, ich habe diesen Text in der Badewanne geschrieben. In einer bordeauxfarbenen Badewanne aus den frühen 80er Jahren, wenn Sie es genau wissen wollen.

Gleich zu Beginn möchte ich Ihnen mitteilen, ich habe diesen Text in der Badewanne geschrieben. In einer bordeauxfarbenen Badewanne aus den frühen 80er Jahren, wenn Sie es genau wissen wollen.
Das können Sie mir glauben, immerhin schreibe ich das nicht umsonst hin.
Aus diesem Grund dürfen Sie gerne damit einverstanden sein,
selbst wenn ich diesen Text nicht in der Badewanne,
sondern in einem mässig grossen und deshalb mässig lauten Luzerner Café oder am viel stilleren Schreibtisch geschrieben habe.
Es spielt auch gar keine Rolle, denn die bordeauxfarbene Badewanne ist eine von mir verwendete Requisite (sind Badewannen noch Requisiten?), ein Ding, für das ich mich mit voller Gewissheit am Anfang dieses Textes entschieden habe.
Sie ist eine Aufrichtigkeit, die Sie als solche annehmen dürfen.

Wissen Sie, das ist nämlich eine Art stille Vereinbarung zwischen uns. Ein Pakt.
Dabei geht es gar nicht um die Wahrheit an sich (die würden wir beide sowieso vergeblich suchen), sondern es geht allein um die Aufrichtigkeit der Lüge.
(Nochmals: Falls ich betreffend der Badewanne überhaupt gelogen habe.)
Ist es nicht so, dass alle Äusserungen immer einen gewissen Grad der Lüge aufweisen?
Und ganz egal wie hoch dieser Lügengrad ist, ist es nicht die Wahrhaftigkeit der Lüge, die uns tatsächlich interessiert?

Machen wir einen Ausflug ins Theater, wo die aufrichtige Lüge zwischen Bühnengeschehen und Publikum eine zentrale Rolle spielt.
Die Bühnenmenschen (damit meine ich Schauspieler, Regisseure, Autoren, Bühnenbildner und alle, die damit zu tun haben), die Bühnenmenschen also lügen dem Publikum etwas vor.
Und das Publikum nimmt ihre Lüge als Aufrichtigkeit entgegen.
Ganz einfach, denken Sie jetzt. Ich werde das trotzdem noch genauer erläutern:
Werden zum Beispiel dokumentierte Äusserungen eines ruandischen Radiosenders auf der Bühne wiedergegeben,
trinkt ein sogenannter Romeo Montague verzweifelt Gift und stirbt,
oder eine reiche alte Dame mit Holzbein erpresst ein Schweizer Dorf,
dann, lieber Leser, dann geschieht es.
Ich nenne es die Verschmelzung.
Alles was auf der Bühne geschieht, ist im selben Moment da es geschieht,
Lüge und Wahrheit zugleich.
Doch anders als im realen Leben ausserhalb des Theaters muss auf der Bühne alles zur totalen Wahrheit werden. Es ist die Aufgabe der Bühnenmenschen wahrhaftig zu lügen.
Und es ist die Aufgabe des Publikums, diese Wahrhaftigkeit anzunehmen,
was ein Publikum übrigens automatisch tut, sobald es sich entschieden hat, Publikum zu sein.
Oder Leser zu sein, lieber Leser.

Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht nicht darum, die Wahrheit auf der Bühne abzuzeichnen oder die Wahrheit angemessen zu imitieren, so etwas geht gar nicht.
Es geht darum, die Lüge aufrichtig zu lügen.
Es ist die Aufgabe der Bühnenmenschen, so wahrhaftig zu lügen,
gerade weil es auf der Bühne keinen Unterschied zwischen Spiel und Wirklichkeit gibt.
Alles ist verschmolzene Gleichzeitigkeit: Jedes Bühnenspiel ist die unmittelbare Wirklichkeit. Jede Lüge ist im Theater die erlebte Wahrheit.
Die alte Dame mit dem Holzbein lacht über das Dorf Güllen,
weil der männliche Schauspieler ohne Holzbein lachend auf der Bühne steht und wahrhaftig lügt,
eine alte Dame mit Holzbein zu sein, die über das Dorf Güllen lacht.
Selbst wenn der Schauspieler sagen würde: «Halt, stopp, hört mal alle her, ich bin doch nur ein Schauspieler, der die alte Dame spielt. Eigentlich heisse ich Gerhard Konrad Tobler, bin 42 Jahre alt und komme aus Göttingen» – dann hat er dies mit der grösstmöglichen Aufrichtigkeit zu tun. Denn auch diese angebliche Wahrheit besitzt auf der Bühne einen Grad der Lüge, der erst noch zur Wahrheit gemacht, zur Wahrheit gelogen werden muss.
Ausnahmslos alles ist immer ein bisschen gelogen, und gerade deswegen braucht das Theater eine enorme Aufrichtigkeit.
Der Bühnenmensch hat jede Lüge ernst zu nehmen – sei sie noch so klein. Was im Theater passiert, passiert nur dann in seiner unvergleichlichen theatralen Art,
wenn es von denen, die es passieren lassen, jederzeit ernst genommen wird.
Und im Theater kann bekanntlich alles passieren: Also muss auch alles ernst genommen werden. Sterben auf der Bühne muss ernst genommen werden.
Humor auf der Bühne muss ernst genommen werden.
Kitsch auf der Bühne muss erst genommen werden.
Das Kunstblut und der Plastikdolch müssen ernst genommen werden.
Das echte Schweineblut, die schmerzhaften Ohrfeigen müssen ernst genommen werden,
genau wie die verfehlenden Ohrfeigen, die Musik ab Band, das abstrakte Bühnenelement und die Videoprojektionen ernst genommen werden müssen.
Die Sprache muss ernst genommen werden.
Publikumsbeschimpfungen und Provokationen müssen ernst genommen werden. 
Die Illusion auf der Bühne muss ernst genommen werden, und dass keine Illusion entsteht muss ernst genommen werden.
Das Scheitern, die Versprecher, die Hänger, das aus-der-Rolle-fallen müssen ernst genommen werden.
Der Zynismus muss ernst genommen werden,
wenn er nicht dazu dient, eine Unsicherheit zu vertuschen,
denn auch jede Unsicherheit auf der Bühne sollte ernst genommen werden.
Das Unernste muss ernst genommen werden.
Das Verlachen der Ernsthaftigkeit muss ernst genommen werden.

Sie sehen, es liegt mir in jeder Hinsicht eine umfassende Wahrhaftigkeit am Herzen.
Und wissen Sie wieso?
Für Sie, lieber Leser, oder liebes Publikum.
Ich erkläre es Ihnen gerne ausführlicher.
Lässt sich das Publikum oder der Leser auf seine Rolle als Publikum oder Leser ein,
dann hat er den ersten Schritt bereits getan: Er ist eine stille Vereinbarung eingegangen und erwartet unsere wahrhaftigen Lügen.
Ich würde sogar behaupten, er kann gar nicht anders.
Das Publikum und der Leser müssen Wahrhaftigkeit erwarten, weil sie es – egal was ihnen schliesslich geliefert wird – in erster Linie als wahrhaftig annehmen müssen, wenn auch sie selbst wahrhaftig sein möchten. Ansonsten existiert das wahrhaftige Publikum gar nicht. Es wird nicht ernst genommen. Es hierbei zu verraten, bedeutet nicht nur einen Bruch der Vereinbarung, sondern insbesondere eine Selbstzerstörung des Bühnenmenschen.
Und alles nur, weil die Bühnenmenschen ihrer Lüge misstraut haben. Wie töricht von ihnen.
Dabei ist die Lüge alles, was sie haben.
Wer im Theater seinen eigenen Lügen misstraut, macht sich nicht nur lächerlich, sondern – noch schlimmer – er macht sich harmlos.
Theater darf alles sein, ausser harmlos.
Warum möchte man harmlos sein, wenn man doch alles sein kann?
Theater ist kein Spiel.
Theater ist die einzige Lüge, die immer stimmt. Weil sie das Publikum will.
Diese Macht (ja, ich nenne es Macht) zu verschenken ist völliger Irrsinn.

Das gleiche gilt für uns zwei, lieber Leser.
Deswegen wiederhole ich es gerne: Ich habe diesen Text in einer grünen Badewanne geschrieben. Ja, waldgrün, nicht bordeaux.
Das ist die Wahrheit, weil es wieder eine Lüge ist.
Sie haben den Text gelesen. Das allein macht ihn bereits unwiderlegbar.
Was genau sie davon glauben, ist völlig gleichgültig. Darum geht es nicht.
Hauptsache ist, ich habe ihn wahrhaftig geschrieben.
Hauptsache ist, sie waren Leser.

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