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Was Lehrer P. immer schon mal sagen wollte

Trauerflor

Die Zeiten als der Lehrer die unangefochtene Autorität war sind vorbei. (Bild: Emanual Ammon/AURA)

Lehrer sind Multitalente. Sie verstehen jedes Kind, sind immer freundlich und wissen alles. Dass die Lehrer nicht den einfachsten Job haben, ist bekannt. Doch eine professionelle Lehrkraft weiss mit diesen Herausforderungen umzugehen. Dabei helfen auch die Nachtstunden.

Blitze durchschneiden die Dunkelheit. Nach Tagen der bleiernen Hitze haben sich himmlische Energien zu einem Gewitter versammelt, Wolken türmen sich mit lautem Grollen und das laue Lüftchen hat sich zu heftigsten Windböen gesteigert. Nach Mitternacht hört der Wind abrupt auf. Der Regen, der sich über dem Mittelland entleert, kündet nicht nur das Ende eines heissen Sommers an. Es ist auch das Ende der langen Ferien. Ein Ende ist immer in Sicht. Ein Anfang ist ebenfalls in Sicht. Er kommt manchmal unverhofft, manchmal geplant.

Der letzte Elternabend

So werden auch Elternabende schon vor den Sommerferien organisiert, und da der heute anstehende Anlass sein letzter sein wird, hat Lehrer P. schlecht geschlafen. Übermüdet steht er in seinem Schulzimmer um sieben Uhr abends, und die Eltern rennen ihm die Türe ein, obwohl der Beginn erst um 19.30 Uhr angesetzt ist. Soeben ist die Mutter von L. eingetreten. L. ist ein hochgewachsenes, originelles Mädchen, das es im Leben weit bringen wird, obwohl die Noten nicht einmal für einen Übertritt in die Sekundarschule reichen werden.

Auf ein Wort mit der Lehrkraft

«Guten Abend, Herr P. Ich wollte ganz kurz mit Ihnen sprechen, denn leider muss ich nach dem Elternabend gleich nach Hause. Mein Mann ist geschäftlich verreist. Sie wissen ja, wie das so ist, mit den Kindern. Man kann sie am Abend nicht lange alleine lassen. Auf L. ist zwar Verlass. Wenn ich ihr sage, eine halbe Stunde, dann ist es auch eine halbe Stunde! Und um acht Uhr abends kommt ja auch nichts für Kinder im Fernsehen. Eine halbe Stunde Bildschirm, nicht mehr, sage ich …»

«Kopieren!», denkt er. «Ich kopiere sinnlos – das Resultat sieht jeweils aus wie das Original. Identisch.»

«Guten Abend, Frau L. Sehr gern nehme ich mir Zeit für Sie, aber jetzt ist es sichtlich ungünstig», unterbricht Lehrer P. die sprechfreudige Mutter, die geflissentlich keine Pausen in ihren Sätzen einlegt, um den Zuhörer nicht zu Wort kommen zu lassen. «Nur schnell, ich verspreche es Ihnen. L. hat in letzter …» – Es sprudelt aus der Mutter von L. heraus wie aus einer nie versiegenden Wörterquelle. Lehrer P. hat sich jedoch bereits abgewandt und begrüsst die Hs. mit Händedruck.

Der Kopierer als Abgrenzungsmechanismus

«Ich sollte noch etwas kopieren!», macht sich Lehrer P. wichtig. Er nimmt ein Buch vom Stapel, der auf dem Lehrerpult liegt, und verlässt das Zimmer. «Kopieren!», denkt er. «Ich kopiere sinnlos – das Resultat sieht jeweils aus wie das Original. Identisch. Was soll daran gut sein? Meine Schülerinnen und Schüler sollten wieder vermehrt von der Wandtafel abschreiben.»

Er muss an die Blicke der Eltern beim letzten Besuchstag denken. Drei Sätze standen an der Wandtafel, drei simple Sätze. Die mussten seine Schützlinge fehlerfrei von der Wandtafel ins Heft übertragen. Sie schrieben die Sätzlein auf und zeigten sie ihm. Bei jedem Fehler wurden sie an den Platz zurückgeschickt. Drei Chancen hatten sie, drei Leben, wie bei einem Computerspiel. Beim vierten entdeckten Fehler riss er die Seite heraus. Das hatte sein Lehrer bei ihm auch so gemacht.

Trennregeln sind scheinbar nur für Grufties

S. hatte erwartungsgemäss die Aufgabe im ersten Anlauf geschafft und mit der Planarbeit begonnen. J. und E. schafften es ebenfalls auf Anhieb, liessen sich aber Zeit. 25 Wörter und 9 Satzzeichen hatte er an die Tafel geschrieben.

«Achtet auf die Punkte!», schärfte er den Kindern ein. «Und setzt auch die Abschnitte so, wie ich es mache!» Dazu markierte er mit gelber Kreide seine Sätze. «Jeder Satz beginnt auf einer neuen Linie!», kommentierte Lehrer P. seine gelben Markierungen und wusste schon im Voraus, dass L. seine Anleitung nicht befolgen wird. L. war nicht die Einzige. Auch Ch. zwängte möglichst viele Wörter auf eine Linie.

Rechtschreibung als Baustelle

Mit Rechtschreibefehlern hatte er gerechnet. Und dass V. den Schlusspunkt vergessen wird, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Dass aber gleich ein Drittel der Klasse als Rechtschreibetote mit verunstalteten Heften bis zur Pausenglocke in den Bänken hängenbleiben würde, das hätte er doch nicht gedacht. Der Vater von V. tröstete seinen Sohn: «Du hast es ja fast geschafft! Alles nur Details!»

R. und W. beschwerten sich über eine angeblich falsche Kommasetzung, worauf Lehrer P. seinen Grammatik-Duden den reklamierenden Eltern aushändigte. «Fragen wir doch Dr. Google! Das geht viel schneller!», meinte R. schnippisch. «Aber man lernt nichts dabei!», wollte Lehrer P. einwerfen, besann sich dann aber eines Besseren. «Man kann gar nicht 'nichts' lernen. Man lernt immer», philosophierte er.

Resigniert wandte er sich wieder seiner Klasse zu: «Die von euch, welche die Sätzlein fehlerfrei abgeschrieben haben und schon am Plan arbeiten, dürfen zusammenräumen und in die Pause gehen!» Nach kurzer Hektik beugten sich nur noch acht Schützlinge über ihre Schreibarbeit. Er sprach mit der Mutter von M. über die mangelnde Aufmerksamkeitsspanne von Zehnjährigen und die Wichtigkeit des Abschreibens. R. und W. verabschiedeten sich von P. Ihre Blicke liessen erahnen, dass sie seine pädagogischen Grundsätze anzweifeln.

Kopien und andere professionelle Deformationen

Im Lehrerzimmer angekommen, setzt Lehrer P. sich hin und atmet tief durch. Der Altpapierbehälter neben dem Apparat quillt über von kopierten Blättern. Ganz Klassensätze befinden sich im Müll. Lehrer P. muss überhaupt nicht kopieren. In seinem Gehirn setzt sich eine Gedankenkette in Bewegung. «Nach den Sommerferien müssen die Notaufnahmen bersten von Lehrpersonen, die sich beim Anblick eines Sonnenblumenfeldes ein Ohr abgeschnitten haben», sinniert er.

Aber vielleicht irrt sich da Lehrer P. Viele denken wahrscheinlich, van Gogh sei ein Handtaschendesigner oder Formel-1- Rennfahrer. Und auch Lehrer P. ist sich nicht sicher, ob er sich das linke oder das rechte Ohr absäbeln soll, um ins Irrenhaus eingeliefert zu werden. Vielleicht handelt es sich bei seinen trüben Gedanken um einen beginnenden Verfolgungswahn, um ein schwelendes Burnout oder im besten Fall nur um eine déformation professionelle.

Ein Lehrer hat Gärtnerqualitäten

«Sonnenblumen, die stehen auch in meinem Garten», fällt ihm ein. Erst gestern musste er die Stängel von den Winden befreien. Winden überall. Sie schlängeln sich durch die Rabatte und ehe man es sich versieht, haben sie schon eine Blume im Würgegriff. Lehrer P. verbringt Stunden in der Hocke, um die Wurzeln der ungebetenen Gewächse behutsam aus dem Boden zu ziehen. Mit einer Stricknadel bohrt er sich zu den Haftstellen und tastet sich mit Zeigefinger und Daumen den Trieben entlang ins Erdreich. So extrahiert er Winde um Winde.

Der Garten des Lehrers. (Bild: Katja Zuniga Togni)

Unkraut jäten gehört zum guten Unterricht

«Aug um Aug, Zahn um Zahn», redet er sich grimmig zu. Seine Gedanken werden in die Tiefe hinuntergezogen, die Bewegungen automatisch, fast schlafwandlerisch. Mit jeder ganz ausgerissenen Winde hellt sich seine miese Laune auf und bald schon befindet sich Lehrer P. in Trance. Er merkt nicht, dass von Südwesten Wolken aufziehen.

Erneut sticht er in die Erde und zieht an einer Winde. Er lässt ihr Zeit, bis sie den Widerstand aufgibt und ein meterlanger heller, dünner Pflanzenstiel ans Tageslicht kommt. In Reichweite erblickt er kein weiteres Unkraut mehr, also richtet er sich auf. Er späht in die Blumenrabatte. Wie ein Storch schreitet er im Gartenbeet herum und sein Blick bekommt etwas Lehrerhaftes.

Wo haben sie sich versteckt, die Fehlpflanzen, die abnormen Gewächse?

Auch in der Pflanzenwelt gibt es Penner und Versager. Brennnesseln fügen Schmerz zu, Klatschmohn schwatzt immer drein, und bei den Hortensien ist sogar der Stängel hohl. Stachelbeeren wurden möglicherweise in Urzeiten floral missbraucht und schützen sich vor weiteren Übergriffen mit Stacheln. Und Winden? Welche Kinder passen zu Winden? Sie schlängeln und kräuseln sich, und wenn sie Ellbogen hätten …

Lehrer P. schreckt von seinen Träumereien hoch. Er muss ja zurück. Heute ist doch sein letzter Elternabend. Schnell nimmt er noch einige Blätter aus dem Altpapier, legt das Buch obendrauf und geht zurück in sein Schulzimmer im Nebentrakt.

P.s letzter Elternabend

Inzwischen ist es bereits 19.25 Uhr. Die Eltern sitzen erwartungsfroh in den Bänken, Hardcore-Mütter schwatzen einen Tick zu laut, um ihre Nervosität zu verbergen. Alle sind gespannt, was Lehrer P. bieten wird. Schliesslich ist es sein letzter Elternabend. Wird auch mal Zeit, dass er geht.

Nervös ist er immer noch, trotz aller Routine. Seit dreissig Jahren predigt er an den jährlichen Elternabenden alten Wein in neuen Schläuchen. Anfänglich hat er noch an Reformen geglaubt. Sein pädagogisches Feuer glimmt inzwischen auf Sparflamme. Er legt die kopierten Blätter auf sein Pult, schaut auf seine Uhr. Dann schliesst er die Türe und öffnet ein Fenster. Frische Luft muss sein.

«Liebe Rosen, lieber Broccoli und liebe Apfelbäumchen! Bitte schlagen Sie Wurzeln! Liebe Winden, lieber Kürbis, lieber Klee! Sie dürfen gleich im Komposthaufen Platz nehmen!»

«Sind wir schon alle vollzählig? Gemäss der Liste fehlen noch Zs. und die Ds. Ich lass mal die Türe offen und beginne!» Er stellt dich vor die Bänke. «Ich begrüsse Sie herzlich zum heutigen Elternabend.» Frau KK hat sich noch nicht zu ihm gedreht. Sie ist mit Frau RR in ein einen regen Austausch vertieft.

Die Vorstellung möge beginnen

«H-hmm!», räuspert er sich. «Ich brauche mich nicht mehr vorzustellen», sagt er, «also gehen wir gleich zu Ihnen. Liebe Rosen, lieber Broccoli und liebe Apfelbäumchen! Bitte schlagen Sie Wurzeln! Liebe Winden, lieber Kürbis, lieber Klee! Sie dürfen gleich im Komposthaufen Platz nehmen!» Die Eltern sind verstummt. Ein Vater bekundet sichtlich Mühe mit dem lächerlich kleinen Stuhl seines Sprösslings, will sich aber partout nicht auf einen Erwachsenenstuhl setzen.

«Die Arbeit mit Ihren Setzlingen und Ablegern macht Spass. Gibt es einen schöneren Beruf als die Arbeit mit diesen jungen, biegsamen Gewächsen! Welche Befriedigung, wenn Sonnenblumen das Licht der Welt erblicken und ein Feigenbäumchen zum ersten Mal Früchte trägt! Auch wenn es nur kleine Feiglinge sind.» Lehrer P. lacht alleine über seinen Wortwitz.

«Stellen Sie sich vor! Jeden Morgen darf ich in glückliche, neugierige, weit aufgerissene Kinderaugen schauen. Sie strecken ihre Hände von früh bis spät und ich muss sie fast bremsen in ihrem Lerneifer. D. hat gestern gesungen – einfach so, ohne es zu müssen! Und die U. hat ein zerknülltes Papier vom Boden aufgelesen und in den Papierkorb getan! Freiwillig! Ja, der Lehrberuf ist schön! Ferien, durchbrochen von einer kurzweiligen Arbeit – erst noch bestens bezahlt!» Er bleibt vor den Eltern stehen und schaut triumphierend in ihre verunsicherten Gesichter.

Aus frischer Luft wird dicke Luft

«Liebe Eltern, wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich soeben gelogen», sagt Lehrer P. nach einer dramatischen Kunstpause. Jetzt ist die Verunsicherung total. «Jeden Abend vor dem Einschlafen ist mein letzter Gedanke bei Ihren verwöhnten Pflänzchen», fährt er fort. «In meinen Träumen kämpfe ich gegen Ungerechtigkeit und rette Leben, um Dankbarkeit zu ernten. Ich wache auf, bevor ich ausgeschlafen bin, da mich alle unbehandelten Fehler dieser Welt nicht mehr ruhen lassen und ich ob der gebuckelten Last verspannte Schultern habe.

Nach zwei Jahren ziehen Sie als Eltern Bilanz, und die fällt in der Regel negativ aus. Das Zeugnis sieht nicht so aus, wie Sie es sich erhofft haben, und das kann nur an mir liegen, denn Ihre zukünftigen Dörrfrüchte können noch so unausgeschlafen in den Bänken liegen, gute Noten schreibt jedes Kind! Lernen scheint in der Schule nur noch Nostalgie zu sein.»

Ein kontroverser Elternabend

Herr H. zückt sein Handy und legt es vor sich hin auf sein Pult. «Die Arbeit mit Ihren Früchtchen ist anstrengend und oft vergeblich. Was soll ich der Lisa Englisch beibringen, wenn sie auch auf Deutsch keinen Satz ohne Fehler hinkriegt! Und erst der Jonas beim Rechnen! Wozu hat der Finger, wenn er nicht einmal auf zehn zählen kann?!? Aus dem wird nie etwas!»

Die Eltern von Jonas werden puterrot. «Ein Lehrer ist wie ein Gärtner!» predigt Lehrer P. weiter. «Manchmal muss man auch etwas Schönes ausrotten. Das ist Natur, das ist Konkurrenzkampf!» Die Eltern starren ihn fassungslos an. «Lassen Sie mich das anhand einer Folie aufzeigen!», spricht sich Lehrer P. in Rage und steckt das Verlängerungskabel des Hellraumprojektors ein. Die Folie hat er eben noch in der Hand gehabt. Wo ist sie jetzt? Er durchforstet seine Unterlagen auf dem Pult – ausser ein paar nutzlosen Kopien liegt da nichts. Wo hat er nur die verdammte Folie hingetan?

Der Lehrer ist voll identifiziert mit seinem Beruf. (Bild: Katja Zuniga Togni)

Frau S hantiert mit ihrem iPhone. «Sicher macht sie ein Filmchen von mir, das sie auf Youtube reinstellt!», schiesst es Lehrer P. durch den Kopf. Mit einem Knall bläst der Wind das offene Fenster weit auf und ein Stapel korrigierter Hefte poltert zu Boden. Erneut knallt es.

Sturm im Kopf

Ein kalter Wind lässt ihn frösteln. Stimmengewirr dröhnt in seinen Ohren. «Aufwachen!» Das ist seine Frau. Was macht seine Frau im Schulzimmer? «Aufwachen! Es ist bereits Morgen! Heute hast du deinen letzten Elternabend!» «Wo sind meine Folien?», murmelt er.«Was hast du nur geträumt!», beschwichtigt ihn seine Frau. «Kein Wunder, bei diesem Gewitter.»

Um sieben Uhr abends steht Lehrer P. in seiner Schulstube und ist nicht ausgeschlafen.

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