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Papierene Dialoge und entgleiste Sprache

Sprich, damit ich dich sehe

Fluchtgefahr? Nicht im Kino! (Bild: Emanuel Ammon/Aura)

Trauer befällt unseren Litaturblogger, wenn er dieser Tage an die bisherigen Solothurner Filmtage zurückdenkt. Aber die Erinnerungen fördern auch Erlebnisse zutage, die mit der Wiederbegegnung mit einem gut gealterten Film zusammenhängen.

Anders als bisher sind die Solothurner Filmtage dieses Jahr eine ferne, im digital entrückten Raum dahinschwebende Veranstaltung. Die «Anstalt» selbst ist nicht mehr in der vertrauten Solothurner Altstadt verortet, im Landhaussaal mit den harten Stühlen, im Alten Spital, im Gemeinderatssaal mit den spärlich vorhandenen, dafür gepolsterten Sesseln, genauso bequem in den beiden Kinos, in der nostalgischen Konzerthalle und der jüngst gebauten, riesigen Rythalle.

Seit mehr als einem halben Jahrhundert lockt dies jährliche Stelldichein im Januar, die vereisten Brücken, der Run auf die Tische im «Weissen Kreuz» und im «Löwen». In der ersten Zeit blieb ich jeweils mehrere Tage in der Zone der Aufgeregtheit, beherbergt im Massenlager unterm Dach, wo es immerhin grosszügige Duschräume gab und wo man von schleckenden Hunden geweckt wurde oder, im unteren Teil des Kajütenbettes untergebracht, das hyperaktive Paar über sich als gefühltes Erdbeben mitbekam.

Mit jedem Jahr wurden es mehr Gäste, ich traf immer dieselben cinephilen Bekannten, die sich oft Ferien genommen hatten, eine Auszeit vom Alltag.

Jetzt oder nie

Damals gab es noch keine digitale Reproduzierbarkeit, keine jederzeit mögliche Zugänglichkeit. Alles war neu und einmalig. Jetzt oder nie, wer nach dem fünften Film einschlief, war selber schuld. Zurückspulen, anhalten, wiederholen, das alles gab es nicht. VHS, DVD, das Aufnehmen der Fernsehausstrahlung Monate später – unmöglich.

Wenn der Film es nach der Premiere nicht ins Kinoprogramm schaffte, blieb nur der kurze Flirt des einmaligen Kennenlernens. Konservieren, kopieren, käuflich erwerben und also ein Privatisieren der Vorstellungen, der Öffentlichkeit, der Reaktionen eines superaufmerksamen Publikums, das wäre uns allen absurd vorgekommen, reizlos und überflüssig. Waren wir nicht alle Augenzeugen und Liebhaberinnen der neusten Entwicklungen im Bereich des Rolls-Royce der Medien?

Wir, das war eine jahrzehntelang aktive, engagierte Gruppe, die eine Art Verschwörung gegen das helvetische Mittelmass beseelte, zusammengesetzt aus Neugierigen aller Landesteile. Die Welschen etwa, sie hatten immer schon das bessere Kino gemacht: die Groupe des cinq.

Hatten sie nicht alle als unbekannte Talente dort begonnen, die Huppert und der Depardieu? Sternstunden waren das, «L’invitation» von Goretta zum Beispiel, mit einem total überraschenden François Simon, oder Jean-Luc Bideau, um dessen schräge Gestalt herum Alain Tanner seine tragikomischen Zeitbilder produzierte und der den Saal zu einem Lachen brachte, das heute noch nachhallt. Neidlos musste man es ihnen zugestehen, sie hatten längst erreicht, woran die Deutschschweiz immer noch zu kauen, zu experimentieren hatte.

Fluchtgefahr? Nicht im Kino

Halt, Einspruch! Die Programmation des Fernsehens SRF in diesen Tagen bringt es in Erinnerung. Da sind doch die Filme von Markus Imhoof, über Pferde zuerst und über Bienen, die ihm, viel später, zu weltweitem Erfolg verhalfen. Und da war 1974 sein zackig-lakonisches Drama über einen glücklosen Delinquenten, das in seinem dokumentarischen Setting an die besten Werke von Fredi Murer erinnerte: «Fluchtgefahr».

Es war ein Paukenschlag für mich, mit dem sich endlich ein überzeugender, ja ein hinreissender Film aus der Deutschschweiz Gehör und Ansehen verschaffte. Seit dem guten alten Schweizer Film der Geistigen Landesverteidigung und seinen Nachwirkungen in Form von Schnyders Gotthelf-Verfilmungen hatte es das Dilemma der hiesigen Sprache, des Dialekts gegeben. Das eklektische Zusammenspiel der Dialektfärbungen aus allen Landesteilen stand quer zu jedem Realismus und blieb zeitlebens dem Laientheater verhaftet.

Ganz schlimm wurde es, wenn die Zürcher Berndeutsch daherzuimprovisieren hatten. All das war hier weggewischt zugunsten eines frischen Tons in einer Alltagssprache, die alle Soziolekte auf den Punkt brachte. Wenn Wolfram Berger es mit seinem strengen Chef zu tun hat, dann stimmen die kurzen, elliptisch abgesonderten Kürzelsätze. Je weniger gesagt wird, desto mehr wird klar.

Berger spielt einen armen Strolch, der seiner Angepeilten mit geklauten Autos zu imponieren sucht und dabei schon beim ersten Versuch Pannen baut. Zu absoluter Höchstform aber läuft die zwischen Tragikomik und nüchterner Fallstudie oszillierende Heimatstil-Krimigeschichte auf, wenn der rebellische, bei aller Sturheit immer sympathische Sozialfall Bruno Kuhn im Gefängnisalltag landet.

Dort tritt nicht nur der abgefeimte Ausbrecherkönig, gespielt von Matthias Habich als deutscher Kriminaltourist, auf und bald wieder ab – dank geglücktem Fluchtversuch samt dem tumben Tor als Komplizen. Sondern vor allem der miefige Beamtenjargon der autoritären, aber immer auch väterlich besorgten Vollzugsbeamten und das genau getroffene Argot der dem Betrieb in mechanischer Routine verhafteten Angestellten, die den ihnen anvertrauten Sonderlingen zum Verwechseln ähnlich sehen. Beaufsichtiger und Beaufsichtigte gehorchen demselben Ritual.

Wärter des courant normal

Überraschend haben hier die Schauspieler aus dem alten Schweizer Film einen Neuauftritt als menschliche Wracks, deren hingemurmelte Zynismen von Becket hätten stammen können. So mimt Hans Gaugler einen Langzeitinsassen mit Anwandlungen von Selbstverstümmelung, der in der Psychiatrie wohl besser aufgehoben wäre, und so überrascht vor allem Sigfrit Steiner als Ekel von einem Wärter, dessen beleidigende, dabei aber immer unterkühlte, unüberhörbare Selbstgespräche bei aller Kaputtheit zum Lachen reizen.

Café fédéral, nahe an der Karikatur. Real existierende Helvetismen sind hier zur klarsichtigen Analyse der Schweiz als Gefängnis geronnen, ganz wie sie Dürrenmatt Jahrzehnte später in seiner Rede gezeichnet hat. Imhoof hat selber als Gefängniswärter gearbeitet. Der Dialog in seinem Film ist karg, mischt sich mit den Geräuschen der Anstalt. Ein Wort sagt hier mehr als tausend Bilder, nicht umgekehrt. Die Bilder werden erst im Zusammenhang mit der Sprache eindeutig lesbar, weil diese das Geschehen verortet und personalisiert.

Authentisch wirkt aber nur eine Stimme, die sich nicht nach dem Drehbuchtext  zu richten hat, sondern eine Sprache an den Tag legt, die der Persönlichkeit des Protagonisten und der Situation, in der er sich befindet, entspricht. Mit dem Transport der Handlung via Geschwätzigkeit ist den Darstellern jede Ausdrucksstärke genommen. Dass die Handlung durchs Bild lesbar wird, bedeutet keine Entschuldigung für eine schlampige Gestaltung des Dialogs. Selbst wenn sich dieser auf Unmutsbekundungen, Seufzer und Flüche beschränkt, müssen diese minimalistischen Äusserungen stimmen, vor allem, was die Dialektfärbung betrifft.

Mit Robotersprache abgefüllte Synchronisationen

Im Theater muss die Sprache das Geschehen tragen. Im Film kann sie das auch, sie kann aber auch, falsch oder achtlos eingesetzt, den ganzen Eindruck zunichte machen. Wie es herauskommt, wenn papierene Dialoge in entgleister Sprache die Tonspur verstopfen, haben wir in den Schweizer Tatort-Beiträgen gesehen bzw. gehört.

Die Wiederbegegnung mit Imhoofs frühem Meisterwerk hat mir klargemacht, woran es den meisten schweizerdeutschen Filmen gebricht. Es sind eben meist keine «Originalversionen», sondern mit einer artifiziellen Robotersprache abgefüllte Synchronisationen. Wie ich erst jetzt sehe, stammt das Drehbuch zu «Fluchtgefahr» von Thomas Hürlimann, einem Autor, der die Mundart immer wieder zur Hauptdarstellerin gemacht hat. Imhoof bedankte sich später mit der Verfilmung von seiner Novelle «Der Berg».

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