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Einsiedler im 21. Jahrhundert

Männer am Rand

Dreharbeiten zum Film über Niklaus von Fluee, 1983.

(Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Haben Sie sich schon mal überlegt, wie der Einsiedler Niklaus von der Flüe in der Gegenwart angekommen wäre? Nein, die Entsorgung in frühere Jahrhunderte fällt uns leichter? Ich kenne selber so einen Fall. Deshalb kann ich ihn recht gut verstehen.

Es hatte damit begonnen, dass er kein Altpapier mehr in die Papiersammlung abgeben wollte. Eine Art Geiz hatte ihn überkommen wie der heilige Geist. Nichts mochte er mehr abgeben, was an seinem Leibe oder mit ihm zusammen hing. Minutiös untersuchte er den Rand, den das Seifenwasser in der Badewanne hinterliess, und er liess erst von dieser peinlichen Gewohnheit ab, als ihm ein in Chemie bewanderter Freund die Zusammensetzung jener schmutzig aussehenden Rückstände analysierte, die keineswegs mit Hautschuppen, wohl aber mit den Ausgangsstoffen der Seife zusammenhängen würden. So er. So ich, obwohl mir chemische Zusammenhänge nicht mal den Aufwand des Nachschlagens im Lexikon wert sind. Aber von mir später.

Kein Entrinnen aus der Weltliteratur

Erst geht es nun mal um ihn. Statt seine in legerster Bohèmemanier erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse in deutscher Literaturwissenschaft in klingende Münze, Sinngenerierung oder gar gesellschaftliche Akzeptanz zu verwandeln, zu mehren und zielgerichtet in die Welt einzubetten, zog sich O. jahrelang mit Klassikern der Weltliteratur zurück, um klammheimlich seine voruniversitäre Bildungsdefizienz nachzubessern, die ihm sein Studium zur ungesicherten Investition hatte verkommen lassen.

Der Rückzug nahm immer unverständlichere Ausmasse an.

Will sagen, die Komplexe einer Kindheit in der unteren Mittelklasse – Sohn eines Appenzeller Knechts, der es mit Bauernschläue und sexuellem Appetit zum Millionär und Herrn über eine Bekleidungsgeschäftekette brachte  – hatten der Mobilität seines selbstgewählten Emanzipationskurses den Radschuh angelegt. Daher der Rückzug, der immer unverständlichere Ausmasse angenommen hatte. Aus der Weltliteratur gab es kein Entrinnen.

Die Bücher stapelten sich, nach dem Schlafzimmer kam das Wohnzimmer dran, schliesslich gab es auch dort keinen Platz mehr. O. eröffnete eine Antiquariat. Das Errichten von Buchgestellen war ihm seit Studienzeiten geläufig, das Bibliografieren und Klassifizieren sowieso. Dass sich O., der Neuling in der Antiquariatsszene, vor allem in der Spezialisierung auf Deutschschweizer Literatur profilieren würde, war sozusagen naturgegeben. Seine Freundinnen hatten sich damit abgefunden, dass sein Hobby nie das ihre sein und dass der Vorsprung, den er sich in seinen postpubertären Selbstnachhilfekursen aufgebaut hatte, nie einzuholen sein würde.

Flucht in den Keller

Szenenwechsel. Im selben Land, aber in einem anderen Kanton. Als Klaus im Keller eine Bastelwerkstatt eingerichtet hatte, überlegte seine Gattin, ob das nun das Ende oder die Wiederaufrüstung ihrer ehelichen Basisdemokratie beinhaltete. Immer öfter kündigte er sein Tagesprogramm, genauer und für Dorothea relevanter: sein Abend- und Wochenendprogramm an, das einen einsamen Lokaltermin im Keller als unabdingbar wahrzunehmenden zwingend beinhaltete.

Da verschwand er dann während Stunden, und nichts als das gelegentliche Aufheulen von Bohrmaschinen oder Scintillasägen, das muntere Gehämmer und Gefeile wohl hörbar zweckgerichteter Aktivitäten erinnerte sie daran, dass er noch lebte. Sie unterliess es, ihn über Sinn und Ende seiner Unternehmungen auszufragen.

Es kam ihr so vor, als ob ihr Mann es auf eine Provokation angelegt hätte.

Wenn er mit verlegen fragendem Blick nach getaner Arbeit vor ihr stand, hiess sie ihn im Kreis der Oberirdischen willkommen, indem sie das Menu des Abendessens zum besten gab oder, im Falle der eher vorgerückten Stunde, einen späten Erfrischungstrunk vor dem Zubettgehen ankündigte.

Irgendwie kam es ihr so vor, als ob er es auf eine sanfte Provokation angelegt hätte. Als ob er den ehelichen Lebensraum verzweifelt, aber zielgerichtet auszuweiten suchte, wobei er von einem egoistischen Konzept aus ging, das sich wie ein stummer Vorwurf im Treppenhause zu Schuld akkumulierte. Akkumulieren sollte. Das einer Erwiderung ihrerseits zu harren schien, einer reziproken Ausweitungsgeste von ihrer Seite.

Unauslotbare Problematik

Dorothea aber, die doch so Belastbare und allerdings so Konfliktfähige, hatte keinerlei Bedürfnis nach symmetrischer Kompensation, gar nach kompetitiver Geschlechtereskalation, das überliess sie den problemewälzenden Fachkräften, die im Zweiten Programm des Radios oder in Frauenzeitschriften die eheliche Zweierbeziehung zu einem unauslotbaren Problemtank hochrechneten und diesen mit Erfolg anzapften.

Ob er es schaffte, ihn im Alleingang im Badezimmer hochzukriegen, wusste sie nicht, und das Nachspionieren war ihr zuwider. Die vielen Potenzerhaltungsangebote, die in ihrem Internetkonto auftauchten, standen nicht unbedingt mit den Gewohnheiten und Nutzungpräferenzen ihres Klaus im Zusammenhang, und weiter gingen ihre investigativen Aspirationen nicht.

So zuckte sie kaum mit der Wimper, als ihr Mann eines Tages ankündigte, sich in der nahegelegenen Schlucht, Ranft genannt, ein Gartenhaus für meditative Ruhestunden einrichten zu wollen. Es wäre ihm aber recht, wenn er dort nicht selber kochen müsste, hatte er hinzugefügt. Die Entfernung zum Wohnhaus sei ja nicht allzu gross, so dass das Essen, das sie ihm dort zubereiten würde, warm genug gehalten werden könnte, um in der Klause serviert zu werden. Es hatte ihm sichtlich grosses Vergnügen bereitet, als er das Wortspiel «Klause» hatte anbringen können, als kalauernde Anspielung auf seinen Namen. Nicht schlecht, hatte seine Gattin gedacht. Und allemal besser und sinnvoller als der Basteltick im Keller.

Askese statt Computer

Doch zurück zu der Geschichte des O. Eines Tages suchte ich ihn in seinem Laden auf, er war damals zwei Freundinnen weiter. Die Bekanntschaft mit interessanten Frauen sei nämlich einer der Hauptvorteile seiner antiquarischen Unternehmung, belehrte er mich. Die schneiten nur so herein – um das geschmacklose Bild des Hereintröpfelns mal beiseite zu lassen – wir werden alle nicht jünger – und liessen sich in jeder Hinsicht beraten, belehren und in ganz neue Welten einführen.

Trotzdem hatte er vernünftigerweise zugewartet, bis sich eine eigenständige, gegen Walser, Inglin und Markus Werner sozusagen resistente, weil mit eigenen Hobbys und Professionen eigenständig beschäftigte Weibsperson einstellte, mit der es für ihn in nachhaltiger Weise auszuhalten sein würde.

Lange hatte sie die ungesunde Tendenz, die das Leben ihres Partners bestimmte, zu übersehen sich bemüht. Seinen Laden hatte sie nicht als die Mönchsklause angesehen, die sie in Wirklichkeit war, seine Beschäftigung mit Texten und fiktionalen Konzepten nicht als den klösterlichen Meditationsritualzirkus, aus dem es kein Entrinnen gab, seinen Widerwillen gegen zivilisatorische Neuerungen wie Internet und Computer nicht als die lebensfeindliche Askese, der all sein Lebens- und Seinswille entsprang, sozusagen zielgehemmt und im Negativen geerdet. Kurz: sie hatte seine retrograde Dynamik nicht erkannt, vielleicht sogar in eitler Verblendung als sympathischen Zug angesehen.

Mit dem Samen geizen

Schon bald klagte sie darüber, dass er sie materiell verhungern lasse. Wohlgemerkt, materiell, nicht etwa sexuell (die Gene des knechtischen, aber naturverbundenen Millionärsvaters hatten für ausreichende Reserven gesorgt). Obwohl ich mir recht gut vorstellen konnte, dass er auch mit seinem Samen geizen würde. Vielleicht schluckte er ihn, um seine Kräfte ja nicht an die Umwelt zu verschwenden.

Die grünen, angeblich naturfreundlichen Ideale des Zeitgeistes waren ihm bei seinem Werdegang zweifellos zu Hilfe gekommen. Keine Dose wurde ungetrennt weggeschmissen, kein Yoghurtdeckeli der Wiederverwertung entzogen, das geerbte Rustico im Tessin verkauft, und für die Fortbewegung gab es nur das Taxi. Für Ausflüge aus der heimatlichen Grossstadt war man auf die Immobilien befreundeter Oberschichtsmitglieder angewiesen, die ihrer linkslastigen Jugend in effektivster Weise abgeschworen und via Bett das Lager und die Einkommenklasse gewechselt hatten.

Minimalprogramm

Die Freundschaft mit O. wurde schwierig, da ihm ein Normalverbraucher wie ich als konsumistischer Geldverschwender erscheinen musste. Ihn und seine Freundin zum Essen einzuladen, erleichterte die Sache nicht. Im Gegenteil, dies Gebaren bestärkte ihn in seinem Vorurteil, einen «big spender» vor sich zu haben. Theaterbesuche kamen kaum mehr in Frage, Kino wurde durch Kulturprogramme im Fernsehen ersetzt. Unverhohlen teilte er mir mit, ein Wochenende in meinem Ferienhaus würde ihm schon zusagen, aber nur, wenn ich selbst anderswohin in die Ferien fahren würde.

An der Klagemauer war ihr Flehen längst in ein blosses Ritual übergegangen.

Dies alles, oder besser gesagt: dies wenige, dies Minimalprogramm, schaffte er seiner jetzigen Partnerin beliebt zu machen, ein Umstand, der mir doch ein bewunderndes Staunen abzuringen vermochte. Mit ihren Klagen wandte sie sich gelegentlich an mich, kaum je aber an ihn. An dieser lebenden Klagemauer war ihr Flehen längst in ein blosses Ritual übergegangen, das den status quo eher zementierte als zertrümmerte. So war es eben und würde es sein, bis ans Ende aller gemeinsamen Tage, geteilter Existenzialismus ist doppelter Existenzialismus.

Heilig aber nicht fromm

Klaus indessen hatte seine Ruhe, Besuchern führte er stolz sein steinernes Kopfkissen vor, zu seiner Frau schlich er nur des Nachts, wenn ihn die fleischliche Lust überkam, das Gezänk des Alltags liess er dankbar samt den weiteren Ehepflichten im Haus zurück, um sich all Morgen frisch und neu den privaten Spintisierereien hinzugeben, die sein Dasein bis ans Ende aller Tage bestimmen würden.

Die Aura des Heiligen stellte sich bald einmal ein, Ratlose von fern und nah suchten ihn auf und baten ihn um Tipps. Einer, der freiwillig sozusagen in seiner Garage zu nächtigen bereit war, der musste der Gnade der grossen Durchblicks teilhaftig geworden sein. Dorothea hielt ihn allerdings nicht für besonders fromm. Zur Kirche ging sie regelmässig allein. Es begab sich aber, dass die Mode des Pilgerns aufgekommen war im Lande, und bis zu 180’000 Menschen im Jahr wanderten nach Santiago de Compostela im fernen Spanien, um ihre seelische Wellness aufzubessern. Einige kamen auch im Ranft vorbei.

Ölflecken oder rätselhaftes Skizzenwerk?

Einer berichtete der Boulevardpresse aufgeregt über seinen Besuch im Gartenhaus. Offenbar hatte sich Klaus gerade mit seinem Velo beschäftigt, denn der Pilger traf ihn über einen Plan gebeugt, auf einen Lappen gemalt, auf dem, wie er später behauptete, ein Rad dargestellt war, mit sechs Speichen, die zu sechs kleineren grafischen Darstellungen ausstrahlten.

Man hielt dies schwarzweisse Skizzenwerk für eine göttliche Vision, glaubte das Antlitz ferner Potentaten darin zu erkennen – vor allem in der Nabe – und fromme Werke. Einige der dargestellten «Medaillons», wie sich der vom Blick konsultierte esoterische Sachverständige ausdrückte, seien übermalt worden und könnten deshalb alles Mögliche vorstellen. Das rätselhafte Werk sei Klaus wohl von einem spirituellen Weisen geschenkt worden, um ihn in seiner geistigen Erkenntniskraft anzutörnen. Dass es sich einfach um Ölflecke und Karrensalbe handelte, wollte niemand wahrnehmen.

Dorothea schüttelte den Kopf, als sie beim Briefkasten stand, die Zeitung in der Hand, während ihr Blick auf das klapprige Velo fiel, das an der Mauer neben dem Hauseingang vor sich hinrostete. Das vordere Rad – genauer gesagt: die überlebenden sechs Speichen davon – war abmontiert und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

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