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Was die Luzener Theaterszene von Berlin lernen könnte

Im Zweifel hüllenlos, aber bitte mit Bühne

Das Theater am Schiffbauerdamm in Berlin wurde 1892 eröffnet.

(Bild: Adrian Hürlimann)

Gutes Theater braucht keine komfortablen Säle, sondern Kreativität und Handwerk, schreibt Adrian Hürlimann im Literaturblog. Gutschweizerischer Perfektionismus zählt in Luzern wie in Zürich auf architektonische Investitionen und Renovationen; die Berliner Szene kommt auch in uralten Sälen zurecht.

Kaum hat sich die Luzerner Theaterszene von ihren modulablen Träumen erholt und sich auf die real existierende Situation zurückbesonnen, erreichen uns die Schreckensnachrichten neuer Horrorszenarien aus Zürich. Einigermassen in Erinnerung geblieben sind mir die Demonstrationen gegen den Abriss des alten Luzerner Theaters, deutlich gemacht durch die symbolischen gelben Schuhe, die in Dürrenmatts Besuch der alten Dame den Meinungsumschwung Richtung Auslieferung des Racheopfers an den Tag bringen. Auf die Kulturbeauftragten war kein Verlass und auf nebulös angekündigte neue Theaterstrukturen sowieso nicht. Zu durchschaubar erschien der Versuch der Politik, die Freie Szene und die Stadttheater-Institution gegeneinander auszuspielen, um durch sachzwängig angeleierte Fusionszusammenführungen Ausgaben für elitäre Minderheiten wie das Theaterpublikum einsparen zu können.

Und nun auch Zürich. Der dortige Stadtrat will die altehrwürdige Pfauenbühne aushöhlen und mit 100 eingesparten Plätzen dem Sitzkomfort neuer Kinosäle annähern. So will er dem aktuell leichten Besucherrückgang entgegenwirken, um den 127-jährigen Bau auf einen neuen Erfolgskurs zu positionieren. Ob das Niveau und die Ausstrahlung der Jahre von Frisch und Dürrenmatt damit wiedererlangt werden, darf bezweifelt werden.

Nie hat mich der sardinenbüchsenartige Abstand der engen Reihen abgelenkt, wenn auf der Bühne erstklassige Dramatik abging. Das war in den Studiokinos übrigens nicht anders. Wenn die Knie am Sitz der Vorderreihe aufgestützt zu schmerzen begannen, war «Stille Tage in Clichy» längst noch nicht zu Ende, und dankbar erwartete ich den zweiten Teil des Streifens, den in Luzern gar niemand zu sehen bekam – auch wenn er sich mit einem Fakirnagelbrett beschieden hätte – weil der Film dort schlicht verboten war.

Ähnlich verhielt es sich im Theater, wobei einem auch noch die Hitze zu schaffen machte, die auf dem Balkon, zuoberst im «Olymp», sowohl im Pfauen wie im Opernhaus. Erlebnis ist, wenn man trotzdem mitmacht.

Eine «Kulturstadt mit Weltformat» verdiene eine «zeitgemässe Theaterinfrastruktur», meinte die Luzerner Zeitung. Wirkliche «Weltformat»-Städte machen ihr Weltformat-Theater aber in durchaus veralteten Gebäuden. In Berlin kommt niemand auf die Idee, Brechts Schiffbauerdamm-Theater oder das HAU (Hebbeltheater am Ufer) abzureissen, und auch die Volksbühne schreibt Theatergeschichte fort in einem betagten, unsanierten Kasten mit speckig gewordenen Klappstühlen.

Und auch dem Gorki-Theater steht der diskrete Charme der DDR-Vergangenheit alles andere als übel an. Dass die Renovation der Elektroanlagen Millionen kosten könnte, mit solchen Sachzwang-Beruhigungspillen soll ein Neubau, gar ein Abriss über die vernebelte Bühne neben der Jesuitenkirche gezogen werden. Kreative Theaterarbeit baut nicht auf touristische Hochglanztempel, sondern auf flexible Standorte und allenfalls auf Pavillons.

Das Hebbeltheater befindet sich in Berlin-Kreuzberg.

Das Hebbeltheater befindet sich in Berlin-Kreuzberg.

(Bild: Adrian Hürlimann)

Auf das Mutterhaus als Identifikationsraum kann sie aber nicht verzichten, ohne dessen Geschichte lassen sich keine Schiffbauhallen oder Annexbauten bewirtschaften. So wie der Neonring des Berliner Ensembles über dem Brecht-Theater kreist, so lockt die Wahrnehmung der Pfauen-Fassade oder des Luzerner Tempels das interessierte Stammpublikum immer wieder in einen erfolgreich und nachhaltig belebten Öffentlichkeitsraum. Dieser definiert sich nicht durch Klimaanlage plus Cüpli-Bar, sondern durch sein gesellschaftliches Erschütterungspotenzial, nicht durch formschöne Hüllen, sondern durch hüllenlose Inhalte.

Diese Ausstrahlung ist nicht gratis zu haben, aber auf Repräsentationsbauten kann sie getrost verzichten. Für die Wagner-Opern ist das KKL da (oder, ein wenig experimenteller, das Neubad). Brauchen wir Appartementhäuser oder Wochenendbungalows in Lebensgrösse auf der Bühne, wie das im Theater Basel angesagt ist? Können wir uns Noras Puppenstube nicht mehr vorstellen, wenn von ihr bloss die Rede ist? Genügt Peter Brooks nackte Bühne plötzlich nicht mehr? Muss dem kitschigen Barock der Rambazamba-Musicalbühne Paroli geboten werden? Mit Glitterbühne und Geisterbahn-Technik und Schlafwagen-Bestuhlung? Innovation der Hardware statt Kultivierung der Bühne? Berlin beweist, dass es auch ohne materielle Optimierung geht.

Ob es nun einen Neubau oder Anbau gibt oder bei dem guten alten Stadttheater bleibt: Das Theater muss überleben, es wird gebraucht, und zwar in der ganzen Zentralschweiz. Wir Zuger sind auf ein regionales Theaterhaus angewiesen. Vielleicht wären wir auch bereit, einen Beitrag für die unverzichtbare regionale «Theaterinfrastruktur» zu leisten. Wenn die Nachbarstadt über ihren stolzen Schatten springen könnte. Das neue Haus könnte immerhin 150 bis 200 Mio. kosten. Das würde den Weg zu einem «Luzerner- und Zuger-Theater» rasant ebnen. Argumente für einen solchen Leuchtturm gibt es. Schliesslich listet sogar Zürichs Tourismus seine Nähe zum KKL als Standortvorteil auf.

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