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Wenn weniger mehr ist

Im Kreis der Jahreszeiten oder: Alles soll bleiben so wie es ist

William Turners diffuse Aussicht aufs Goldauer Bergsturzgebiet. (Bild: zvg)

Literaturblogger Adrian Hürlimann ärgert sich darüber, dass die Wahlreden das Blaue vom Himmel herunter holen und konkrete Ziele im Diffusen verschwinden lassen.

Gepriesen sei der Herbst. Soll er das, gepriesen werden, und wofür genau? Mit klaren, sichtigen Landschaftsbildern soll er uns zum Wandern verlocken? Mit dramatischen Stürmen den banalen Alltag in Schrecken und Staunen versetzen? So habe ich es in Erinnerung, so feiert es die Dichtung, und so ist es nicht mehr. Das Panorama der Berge bleibt im Dunst verschwunden, die Temperaturen verharren im Bereich des Wohnungsinnern, der See lädt weiterhin zum täglichen Bad, die Sonne ist nach wie vor so intensiv, dass wir Schirme aufspannen müssen, und nicht nur die Raucherinnen bevölkern immer noch die Strassencafes.

Im Dunst verschwunden präsentieren sich auch die Rezepte, mit denen die Kandidatinnen und Kandidaten fürs Bundeshaus ihre Wahlchancen zu mehren suchen. Mit globalen Horizonten wird da allenthalben gearbeitet, grenzüberschreitenden, kaum zu verortenden Zuständen zu Leibe gerückt, Bedrohungsszenarien und vage Rezepte dagegen in Stellung gebracht, mit einer Deutlichkeit, die dem Pfarrer am Sonntagmorgen Konkurrenz machen könnte. Mit dessen Predigt haben sie auch die durchschlagende Wirkungslosigkeit gemein, welche den Wahlergebnissen folgen wird.

Pathos statt Machbarkeit

Dabei gäbe es durchaus griffige Massnahmen, die den im Diffusen verschwindenden Horizont schlagartig mit Durchblick und Konkretisierung fassbar werden liessen.

Road pricing um die Zentren herum zu den verkehrsreichen Spitzenzeiten etwa wäre geeignet, den Belagerungszustand auf unseren Strassen schlagartig zu beenden und die Luftverschmutzung mit ihm. Carsharing funktioniert in Boston bestens, zumal die besser ausgelasteten Fahrzeuge auf speziellen Fahrspuren bevorzugt und ungehindert in die Innenstadt gelangen. Dass Vorschläge dieser Art nur an Anlässen wie dem Spangen-Nord-Fest zur Sprache kommen und eben in keiner Wahlempfehlung auftauchen, spricht nicht für den allenthalben propagierten Willen zur Änderung und Verbesserung der helvetischen Zustände.

Dichter auf Abwegen

Ausgerechnet aus der Ecke des Schöngeistigen, der ins politisch Wirkungslose entsorgten Literatenszene naht nun Hilfe. «Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch», formulierte Hölderlin schon vor langer Zeit. Und tatsächlich, ein Weltliterat wie Jonathan Safran Foer meldet sich zum Erstaunen der Öffentlichkeit von seinen biografischen Themen der biografischen Suche nach seinen Wurzeln im jüdischen Galizien ab und wendet sich einer so alltäglichen wie politisch brisanten Frage wie dem Fleischkonsum und dem Vegetarismus zu. Und jetzt hat er es wieder getan: Essay statt Fiktion: «Wir sind das Klima! Wie wir unseren Planeten schon beim Frühstück retten können», so ruft er auf und aus. Und landet wieder bei der selben Frage wie im letzten Buch, der Fleischproduktion und dem Versuch der Kärung, ob weniger vielleicht mehr sein könnte.

Der hiesigen Landwirtschaft als zweitgrösster Verursacherin der CO2-Verpestung tut er damit keinen Gefallen. Wer durchs Mittelland fährt – mit dem Velo natürlich – sieht allenthalben die Fluren vollgestellt mit einer Monokultur von Silomais, und wenn wir uns dazu den Sojaimport aus Bolsonaros abgeholzten Urwaldflächen dazu denken, können wir den Slogan «…alles andere ist Beilage» durchaus nachvollziehen bzw. mit Fleisch und Blut ausmalen.

Im Hause muss beginnen

Und uns tut er damit auch keinen Gefallen. Indem er darauf hinweist, dass die Lösung der allenthalben angeprangerten Probleme nicht bei Szenarien beginnen, die «Bern» für uns zu entwerfen hat, sondern beim Verantwortungsbewusstsein von Otto und Anna Normalverbraucher. Folgen wir also den Gedankengängen unserer Dichterinnen und Dichter und den Spuren «des Rettenden» und passen wir unsere Gewohnheiten und unsere Lustprinzipien entsprechend an.

Mehr Velo, weniger Fleisch, weniger makellose Kartoffeln aus dem Plastiksack, mehr regionale Produkte ab Hof, mehr fleckiges Obst. Mehr Spaziergänge durch extensive, mit einem dichten Netz von diversitätsfördernden Brachen aufgelockerte Landschaften, weniger Lichtverschmutzung und Insektizide, mehr Insekten, Käfer, Würmer und Heugümper, Schmetterlinge Vögel und Fledermäuse. Dann wird es auch möglich sein, dass die Literaten sich ihren fiktionalen Themen und Stoffen zuwenden und die Sorge um das Überleben der Menschheit den Zeitungen, Politikern und Pfarrerinnen überlassen können.

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