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News stehlen den Büchern die Zeit

Hört auf zu lesen!

Bücher sind dufte – sobald sie Welt und Wahrnehmung erweitern. Wie hier, am Stand des Quaternio-Verlags auf dem Buchmarkt am 11. März.

(Bild: Foto: MC Graeff)

Heute lesen wir so viel, dass uns die Augen qualmen. Die Frage ist nur, was. Gedanken zum Leitmedium unserer Kultur, das Buch. Und zum Nachrichtenüberfluss unserer Gesellschaft.

«Du sollst Aufmerksamkeit erregen!» schreit alles lauter denn je, und mit diesem Titel könnte es funktionieren. Als Slogan meiner einstigen kleinen Buchhandlung haute er jedenfalls hin. Alle so: Och nöö – das ist ja furchtbar! Und schon musste sich der Kunde als solcher beweisen … Aber es war 1990, eine andere Zeit, auch für das Buch.

Das alte Thema: «Heute wird zu wenig gelesen …» – Diese Behauptung beansprucht jedes Jahr aufs Neue ihre Gültigkeit, seit die Industrialisierung Druckwerke massentauglich machte und die Buchproduktion wie die periodische Presse der industrialisierten Zonen beflügelte. Und stets war und ist das Gegenteil der Fall. Heute lesen wir so viel, dass uns die Augen qualmen. Die Frage ist nur, was.

Momentan beginnen die Tage damit, noch vor dem Frühstück in den Portalen nachzuschauen, was der grosse Blonde mit dem roten Kopf wohl des Nachts wieder getwittert haben mag; die prickelnde Mischung aus Furcht und Spott macht uns wacher als der stärkste Kaffee. Dann jagt man schnell durch die wichtigsten Headlines, schaut hier hinein und dort vorbei und wird zur leichten Beute für die Sekundenjäger, die Auswerter unserer derzeitigen kulturellen Hauptwerte, der sogenannten Verweildauer und der Abweichungen von eigentlich geplanten Pfaden. Denn das sind Werte, die für die Messung des wirtschaftlichen Potenzials eines Mediums eine Rolle spielen.

Inhaltsleer und zweckfrei, aber gelesen

Was das mit Büchern zu tun hat? Indirekt viel, denn so geht es weiter, den ganzen Tag entlang. Im Beruf und Unternehmen lesen wir Meldungen, Kurzinfos, Mitteilungen, Zusammenfassungen, Exzerpte, Abstracts, Auswertungen und Rezensionen, zwischendurch immer mal einen halben Artikel und natürlich News, News, News, daneben Mails ohne Ende und SMSse oder Messages, die meisten davon inhaltsleer und zweckfrei daherkreisend, was der Nachricht an sich egal sein kann, denn gelesen werden muss sie ja sowieso.

Und jede Nachricht, die unsere Lebens- und Lesenszeit erfolgreich verbraucht, kann als eine zufriedene angesehen werden, falls diese absurde Beseelung eines Binärcodes hier mal zugelassen sei. Und abends wirft man sich zu Bette, greift noch rasch hinüber zum Stapel mit dem gebundenen Altpapier und schläft schon während der Suche nach der Stelle, an der man zu Ostern zu lesen aufhörte, ein.

Schweigen ist Schuld

Sprünge machen eine Kolumne über ein bekannt geglaubtes Thema lebendig, heisst es. Also, springen wir: Zurück in meine Buchhandlung, ins Jahr 1993. Im Mai jenes Jahres brannte in der Nachbarstadt ein Haus; ein fremdenfeindlicher Anschlag kostete fünf Menschen das Leben. Schon wenige Wochen später gab eine Initiative grosser Buchverlage gegen Gewalt und Fremdenhass das Taschenbuch «Schweigen ist Schuld» in einer Grossauflage zum Sonderpreis heraus, mit über 50 Beiträgen von prominenten internationalen Autorinnen und Autoren. Es gab Lesereisen durch die Theater, Lehrer kauften ganze Klassensätze von ihrem eigenen Geld und die Publikation wurde zum fähigen Werkzeug einer Diskussion über den erstarkenden Rechtsradikalismus.

«Bücher sind wichtig und schön. Alles Quatsch.»

In dem knappen Vierteljahrhundert zwischen damals und heute liegt eine umstrittene, aber in jedem Fall erschreckend hohe Zahl von politischen Toten, und allein im Jahr 2016 gab es in Deutschland fast 1000 Anschläge auf Flüchtlingsheime. Gleichwohl wäre ein Buch wie «Schweigen ist Schuld» heute nicht mehr möglich – während in 2010 ein reaktionärer, fremdenfeindlicher und im Wechselschritt prä- oder postfaktischer Altpolitiker ein populistisches Angstmacherbuch leicht eineinhalb Millionen Mal vergolden konnte, ein Werk, das gerade heute wieder heiss und hassend nachglüht. Nicht das Buch an sich, aber Märkte und Mechanismen haben sich verändert.

Der energetische Wahnsinn

Zugleich wird so viel über Bücher gefühlt wie selten. Das Ende sei da (und dann wieder doch nicht); one book a day – all troubles away; Bücher sind lieb und wichtig und ausserdem unheimlich schön und so weiter. Alles Quatsch.

«Das Buch ist das benötigte Leitmedium unserer Kultur.»

Ein Buch ist ein meist mit Chemie zusammengeklebter Stapel chemisch gebleichter, plattgewalzter und danach geordnet beschmutzter Matsche, in Plastik eingeschweisst, endlose Autobahn-, Schiffs- und Flugzeugkilometer lang durch die Welt geworfen, aufwendigst in die Verteilstellen gebracht, ein- oder mehrmals (oder nie) gehandelt, manchmal unter Energieaufwand zahlloser Lampen angeschaut, endlose Strassenkilometer lang eingesammelt, geschreddert und zermahlen und verfeuert … Ein Buch ist der energetische Wahnsinn.

Und doch ist es das unvermindert benötigte Leitmedium unserer Kultur. Nur eines sollte einfach an ihm abperlen: das inhaltsferne Schönfühlen. Obwohl ich selbst mit Leidenschaft für zeitgemäss oder zeitlos sorgfältig produzierte, möglichst angenehm lesbare und mit allen taktilen und formalen Anregungen versehene Bücher arbeite und argumentiere: Ein Buch, das nicht gelesen wird, wird umsonst gestaltet.

Bücher als Gefühlsobjekte

Genau darauf wollte ich eigentlich hinaus; bitte verzeihen Sie, dass ich Sie von Ihrem aktuellen Buch abhalte, falls Sie noch dabei sein sollten. Ein Buch besteht aus sprichwörtlich gebundenen Gedanken, Erkundungen und Erkenntnissen. Immer schon. Was sich verändert hat, ist das Lesen. Vor etwa zwei Wochen fand das 32. Luzerner Literaturfest statt, erfolgreich und gut wie immer.

Unser geschätzter Stadtpräsident eröffnete den leider diesmal allzu locker besuchten und längst nicht leergekauften Buchmarkt in der Kornschütte und bedauerte in seiner Ansprache, dass er kaum mehr zum Lesen komme. Das Buch bedeute für ihn Ferien, und die habe er nun mal selten.

«Es gibt jede Menge böse, dumme, falsche Bücher.»

Dies geht wohl vielen so und es ist nicht verwerflich; im Gegenteil. Aber welche Bedeutung wird dem nur noch als Vergnügen geltenden Lesen hier genommen und in welches rein optionale Lifestyle-Wellbeing-Vergnügungs-Korsett wird das Gefühlsobjekt Buch da gestellt? Es liegt mir fern, den Eröffnungsredner zu kritisieren; er wollte dem bücherliebenden Publikum ja eine Freundlichkeit erweisen, einen Gefallen tun, indem er das Leidenschaftsobjekt aus dem Gefahrenbereich des Alltags in die Zonen des schönen Lebens schob.

Wir lesen zu viel

Aber genau das ist es doch: Ein Buch ist auch Arbeit, soll und muss auch Arbeit sein. Und Literatur ist (je nachdem) schön, aber längst nicht alles. Bücher sind Wissenstransporter, komplexe Diskurse, Entwicklungshilfen und Lernwerkzeuge, Erfahrungen und ausgewertete Diskussionen, Provokationen und Aggressoren, Friedensrichter, Faktenspeicher, kurz: die Motoren der Bewegungen unserer Gegenwart.

Es gibt auch nach wie vor jede Menge böse, dumme, menschenverachtende und falsche Bücher (und zudem sehr erfolgreiche, siehe oben), je nach Standpunkt. Und auch die sind für unsere Gesellschaft wohl nötig, so sie denn ihren Zustand widerspiegeln.

Ein Buch gibt uns während der Lesenszeit den benötigten Raum, um eine Zeit lang ohne weitere Einflüsse von aussen (derer da eben mehr sind als je zuvor, und dieser Blog gehört leider selbst dazu) über etwas nachzudenken. Es sollte uns nicht nur zum Wohlfühlen und Hübschfinden antreiben, sondern zu Reflektion, Erkenntnis und Widerspruch. Und genau dafür fehlt uns die Zeit? Ja, weil wir nämlich zu viel lesen.

Hört auf zu Lesen – und lest endlich wieder!

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