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Thomas Brändle

Herr Momo

Die Zeitsparkasse war über die letzten Jahrzehnte stetig grösser geworden. (Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Herr Momo hatte in den vergangenen Monaten wieder eine Menge Zeit gespart, die er seinem Konto gutschreiben wollte. Er war einer der fleissigsten Mitarbeiter seines Arbeitgebers. Für anderes gönnte er sich kaum Zeit, weder für seine Familie, seine Freunde, noch für seine Gesundheit.

«Guten Tag, Herr Momo», begrüsste ihn die adrette Dame am Schalter der Zeitsparkasse.

«Guten Morgen, Frau Höppli», entgegnete er freundlich.

Herr Momo hatte in den vergangenen Monaten wieder eine Menge Zeit gespart, die er seinem Konto gutschreiben wollte. Er war einer der fleissigsten Mitarbeiter seines Arbeitgebers. Für anderes gönnte er sich kaum Zeit, weder für seine Familie, seine Freunde, noch für seine Gesundheit. Er sparte all diese Zeit für nach der Pensionierung, damit er im Alter reichlich davon haben wird. Um dann endlich ein schönes, beschauliches Leben im Kreise seiner Lieben zu führen.

Die Zeitsparkasse war über die letzten Jahrzehnte stetig grösser geworden. Immer mehr Menschen sparten ihre Zeit, um sie auf der Zeitsparkasse einzuzahlen, auf der sich diese gesparte Zeit sogar noch vermehren sollte. Die Zeitsparkasse investierte die Zeit nämlich in sinnvolle Projekte, stellte sie kreativen Menschen zur Verfügung, die eben keine oder nur wenig Zeit hatten. Die Zeitsparkasse war bald so gross geworden, dass ihre Chefs unablässig prominenter, hübscher und in der öffentlichen Wahrnehmung wichtiger wurden. Bald glaubten die Menschen sogar, dass diese Chefs noch wichtiger waren, als die gewählten Politiker oder jene Menschen, die bei der Arbeit etwas Nützliches herstellten. Deswegen zahlten sich die Chefs auch regelmässig exorbitante Zeitsaläre und Zeitboni aus. Bald fusionierte die Zeitsparkasse mit anderen Geldinstituten, um weitere Zeit zu sparen. Schliesslich wurde sie privatisiert, umbenannt in United Timeless Bank und ging an die globale Zeitbörse.

Eines Tages las Herr Momo in der Zeitung, dass die United Timeless Bank die gesparte Zeit statt den Firmen und Menschen in seiner Region Lebewesen auf einem anderen Planeten zur Verfügung gestellt hatte, die sie möglicherweise nie werden zurückzahlen. Da wurde Herr Momo ziemlich nervös. Als er zur ehemaligen Zeitsparkasse kam, standen da schon Tausende Zeitsparer vor dem Eingang und wollten sich ihre Zeit in bar auszahlen lassen. Aber die United Timeless Bank hatte nicht einmal mehr so viel Zeit, um die Schalter zu öffnen. Weil die frühere Zeitsparkasse inzwischen dermassen gross und systemrelevant geworden war und eine allgemeine Panik drohte, musste der Staat die heutige United Timeless Bank retten und für die gesparte Zeit der Menschen garantieren. Dafür borgte er sich von der nächsten Generation, also Herrn Momos Kindern und Enkeln, sehr, sehr viel Zeit. Und deswegen werden sie einmal kaum Zeit für Herr Momo haben. Um ihn zu besuchen, wenn er endlich Zeit für sie hätte. Vielleicht.

inspiriert von Michael Endes Märchen Momo –  Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte

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