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Adrian Hürlimann

Ein Blick in die Gender-Realität

(Bild: pixabay)

Adelsgeschichten weisen auf ein zentrales Problemfeld unserer Gesellschaft hin, findet Blogger Adrian Hürlimann. Er blickt auf frühere frauenfeindliche Verhältnisse und die heutige Gender-Realität.

Ein Mann aus dem Adel entdeckt eines Tages, dass seine Ehefrau einem Bekannten amouröse Briefe schreibt, worauf er den Rivalen zum Duell nötigt und ihn dabei erschiesst, seine Frau hingegen verstösst und das gemeinsame Kind entführt. Kommt Ihnen diese Geschichte bekannt vor?

Sie erschien 1886 in einer Berliner Zeitung. «Elisabeth von Plotho, eine junge Frau aus altem magdeburg-brandenburgischen Adel, heiratete trotz ihres Widerwillens aus Gehorsam gegenüber ihren Eltern 1873 Armand Léon Baron von Ardenne (1848–1919). Der duldete einige Jahre später, dass der Amtsrichter Emil Hartwich aus Düsseldorf Elisabeth malte und immer wieder mit ihr zusammen war. Ob es Aktbilder waren, wissen wir leider nicht.

Das Duell

Nachdem der Baron versetzt worden und deshalb mit seiner Familie nach Berlin umgezogen war, beobachtete er, dass seine Frau mit Hartwich korrespondierte. Misstrauisch geworden, öffnete er in der Nacht auf den 25. November 1886 die Kassette, in der sie die empfangenen Briefe aufbewahrte: Kein Zweifel, Emil Hartwich und Elisabeth von Ardenne hatten ein Verhältnis!

Der Amtsrichter, den er telegrafisch nach Berlin rief, gestand es und nahm die Forderung des Barons zum Pistolenduell an. Es fand am 27. November 1886 auf der Hasenheide bei Berlin statt. Von mehreren Schüssen getroffen, starb Emil Hartwich vier Tage später in der Charité. Baron von Ardenne wurde festgenommen, kam jedoch nach nur achtzehn Tagen Festungshaft frei. Seine Ehe wurde am 17. März 1887 geschieden und er erhielt das Sorgerecht für die beiden Kinder.

Zentrales Problemfeld der Gesellschaft

Diese Geschichte kommt Ihnen natürlich bekannt vor, bildete sie doch das Grundgerüst für die Handlung eines der berühmtesten Gesellschaftsromane aller Zeiten: von Theodor Fontanes Effi Briest (1894), ebenfalls 1896 handelnd, an teilweise identischen Orten, dutzendfach verfilmt und auf die Bühne gebracht.

Ein zentrales Problemfeld der modernen Gesellschaft wird etabliert, ganz wie in Anna Karenina, Nora, Madame Bovary, Middlemarch, Tess of the d’Urbervilles. Proposed marriage, Passivrollenzuweisung, parteiisches Eherecht, Pathologisierung der Frau, Pauperisierung einerseits, Militärethik, Familienehre und Blutrache andererseits: alles da.

Frauenfeindliche Verhältnisse

Zwischen realem Vorbild und literarischer Umsetzung gibt es aber einen Unterschied: die reale «Effi», Elisabeth von Ardenne, gab sich nicht auf und endete nicht mit 29 in Kummer und Depression, sondern liess sich zur Krankenpflegerin ausbilden, führte ein selbstständiges Leben und starb 1952 mit 98 Jahren.

Dass die Verhältnisse aber frauenfeindlich waren, der Ehrenkodex der Gesellschaft machistisch geprägt war, gilt für beide Narrative. Eine Frau von Stand durfte sich zum Beispiel nicht alleine auf die Strasse begeben. Kommt uns da vielleicht Saudiarabien in den Sinn?

«Die Vergangenheit ist nicht tot.»

Während fortschrittliche Kräfte in der damaligen Öffentlichkeit für eine Verschärfung des Duellrechts kämpften, versicherte Kaiser Wilhelm I. die Täter seiner vollen Sympathie und liess seinen Einfluss zugunsten einer Begnadigung und Beförderung des Barons von Ardenne wirken.

Warum dieser Blick in die Gender-Realität der europäischen Geschichte? Ganz einfach: Die Vergangenheit ist eben nicht tot – sie ist nicht einmal vergangen, wie William Faulkner bemerkte.

Wenig Verständnis

Wenn wir heute die Zeitung aufschlagen, erfahren wir, dass unser Parlament den Vorschlag des Bundesrats für eine angemessene Vertretung der Frauen in Verwaltungsräten ins Reich der Utopien und philanthropischen Träumereien verweisen wird.

Sommarugas Forderung, 30 Prozent Frauen sollten im VR börsenkotierter Unternehmen Einzug halten, in der Geschäftsleitung 20 Prozent (nicht wie heute 16 resp. 6 Prozent), stösst bei den herrlichen Ohren auf wenig Verständnis. Einhellig hatten sich die bürgerlichen Parteien schon in der Vernehmlassung gegen eine solche Richtwert-Regelung ausgesprochen (nur die BDP ist gespalten).

Selbstregulierung wie beim Pistolenduell

Die Besetzung privater Gremien sei keine Sache des Staates, meint FDP-SR Caroni. Es sei nämlich «unwürdig» und nicht im Interesse der Frauen, wenn diesen das Etikett Quotenfrau angehängt werde. Die Offenlegungspflicht habe eine Prangerwirkung, weiss SVP-NR Hans-Ueli Vogt. Man solle nicht so tun, als sei nichts unternommen worden (in der Tat: Der Frauenanteil an Neumitgliedern in Verwaltungsräten ist von 33 auf 23 Prozent gesunken).

Für völlig unnötig und bürokratisch hält CVP-SR Pirmin Bischof den sanften Druck der Justizministerin. Auf Selbstregulierung solle gesetzt werden. Ganz wie bei der Lösung mittels Pistolenduell eben. Unter Ausschluss des schönen Geschlechts, das in einem Drittel der grösseren Unternehmen dem VR nur den Kaffee servieren darf.

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