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Edith war 93 Jahre alt, als sie starb

Edith, du fehlst mir!

zvg

Unsere Literaturbloggerin nimmt in ihrem neusten Beitrag Abschied von Edith. Einer Frau, die ihr über lange Zeit nicht nur eine herzensgute Freundin war, sondern viel mehr wie eine Ersatzmutter.

Edith war 93,5 Jahre alt, als sie starb. Auf den Tag genau 93,5 Jahre. Es würde mich nicht wundern, wenn sogar die Stunden und Minuten ihres Todes mit dem genauen Zeitpunkt ihrer Geburt übereingestimmt hätten und ihr Todeskampf analog zu den Wehen ihrer Mutter stattgefunden hätte. Wobei Todeskampf nicht der richtige Ausdruck für die letzte Phase vor Ediths Tod war, hatte sie diesen doch schon seit Jahren sehnlichst erwartet. Doch eines hatten diese Phasen gemeinsam: dem eigenen Körper ausgeliefert zu sein und die enorme Ungeduld auf das Nachher. Der Todestag passte zu ihr. Diese Liebe zur Exaktheit! Keinen Tag zu viel hat sie gelebt und für mich keinen Tag zu wenig.

Wenn ich doch nur eine traurige Geschichte schreiben könnte!

So, wie ich mich jetzt fühle

Nicht erleichtert

Ich vermisse etwas

Es fehlt mir Edith, du fehlst mir!

Der Urknall

Die Geschichte von Edith beginnt für mich mit dem Urknall – sie war immer schon da. Als beste Freundin und Vertraute meiner Mutter war sie oft in unserer Familie anwesend. Zuerst als Nachbarin, als meine Eltern von Zürich in den gleichen Block wie Edith zogen. Diese hatte zwei Kinder, die bereits in die Primarschule gingen, und ihr Mann betrieb einen kleinen Laden im Block nebenan. Meine Mutter und Edith verbündeten sich dank dem gemeinsamen Ostschweizerdialekt gegen den Rest ihres Innerschweizer Wohnortes und wurden enge Freundinnen.

Ich nahm Edith anfänglich vor allem dann wahr, wenn sie Mitleid mit mir hatte. Niemand sonst hatte Mitleid mit mir, meine Mutter am allerwenigsten. Für meine Mutter war Unglück etwas Selbstverschuldetes und Traurigsein ein Mangel an Selbstdisziplin, ein unnötiges Unvermögen zum Glücklichsein. Man war nur mit Absicht unglücklich, meine Tränen waren bösartig und nur dazu gemacht, ihr ein schlechtes Gewissen zu bereiten, und so gewöhnte ich mich schon früh daran, mich vor Unglück zu schützen, indem ich dem Leben entgegenlachte oder mich so klein machte, dass niemand mich bemerkte. Meistens machte ich mich klein.

A. Noth, diplomierter Uhrmacher

Edith war ganz anders als meine Mutter. Ihr Mann war Uhrmacher, für mich also ein Zauberer, der den Lauf der Zeit beherrschte. Sie besassen einen winzigen Uhrenladen mit einer Certina-Reklametafel: A. Noth, diplomierter Uhrmacher. Dort verbrachte ich manchmal Zeit, um hinter das Geheimnis der Zeiger zu kommen, aber ich durfte nie in die Werkstatt.

Nur von Weitem sah ich Noldi in seinem blauen Kittel mit riesiger Brille und einer an einem Stirnband montierten Lampe über eine Uhr gebeugt, in höchster Konzentration. Vorne im Laden stand Edith und verkaufte Uhren, Silberbesteck und Goldkettchen. «Aiii aiii aiii! Käterli! Du armes Meitli!!! Aii aiii aiii! Muss das weh tun!»

Blutend stand ich vor Edith und brach – in Gelächter aus! «Edith! Das ist doch nicht so schlimm!», sagte ich, darauf hoffend, dass meine Tränen durch das erzwungene Lachen als Freudentränen interpretiert wurden. Ich hatte ihr nur zeigen wollen, was ich alles im Ballettunterricht gelernt hatte. Aus dem Stand heraus hatte ich blitzschnell meine Arme in die Luft gestreckt, um dann rückwärts eine Brücke zu schlagen. Hinter mir war nicht viel freier Platz gewesen und der Radiator hinterliess auf meiner Stirn eine Narbe, die heute noch sichtbar ist.

Edith wusch das Blut von meiner Stirn und klebte ein Pflästerli auf den Schnitt, ohne mit mir zu schimpfen. Sie wusste wohl, dass ich zu Hause im besten Fall getadelt wurde, weil ich nicht besser aufgepasst hatte. Irgendwann ging ich meine Wege und sah Edith seltener, da sie ja die Freundin meiner Mutter war und ich auch meine Mutter immer seltener sah. Ich weilte zwei Jahre im Ausland und unser Kontakt beschränkte sich auf sporadische Postkartengrüsse.

Wer zuletzt stirbt …

Dann wurde meine Mutter krank. Ich war aus dem Ausland zurückgekommen. Edith kam jeden Tag auf ihrem blauen Velosolex angefahren. Es war ein langsames Sterben. Eine traurige Zeit, in der genug Zeit blieb, sich von der Sterbenden zu verabschieden. Der Tod kam als Erlösung und auch als Erleichterung. Erlösung für meine Mutter selber, waren doch die Schmerzen ohne Medikamente fast nicht mehr ertragbar geworden und der körperliche Zerfall hässlich.

Den Pflegenden, zu denen in erster Linie Edith, mein Vater und ich gehörten, half in der ersten Zeit die Erleichterung über den Schmerz des Verlustes hinweg, hatten wir doch täglich Stunden am Totenbett verbracht und mussten hilflos mitanschauen, wie der Krebs eine erst fünfzigjährige Frau zerfrass. Wütend musste ich akzeptieren lernen, dass das Leben nicht einfach nur eine Sache des Willens war.

Der Tod meiner Mutter veränderte meine Beziehung zu Edith. War sie zuvor für mich wie eine Ersatzmutter, wurde sie jetzt mehr zu einer Leidensgenossin. Sie hatte ihre beste und einzige Freundin verloren, ich eine Mutter, die auch für mich die beste und die einzige war.

Knapp zwei Jahre später wollte auch mich der Tod ereilen. Nach einer schwierigen Operation und Tagen im Koma erwachte ich an einem fremden Ort, in der Intensivstation eines Spitals, und als ich nach einer Woche in ein normales Zweitbettzimmer verlegt wurde mit einem Telefon auf dem Nachttischlein, konnte ich mich nicht mehr an die Telefonnummer von zu Hause erinnern. Nur die Nummer von Edith, die war mir noch präsent, und Edith war die erste Person, die ich anrief.

Über sechzig Lebensjahre trennten Edith und mich, doch durch die vielen traurigen Erfahrungen, die wir zusammen teilten, rückten wir enger zusammen. Rings um uns wurde gestorben und verlassen – Edith und ich blieben bestehen. Politisch teilten wir nicht dieselben Ansichten. Wir konnten herrlich miteinander streiten, um dann miteinander Frieden zu schliessen. Jede respektierte die andere und nie hörte ich sie belehren:

«Weisst du, du bist noch jung! Wenn du mal so alt bist wie ich, denkst du auch anders!» Im Gegenteil. Ihr Interesse an der Jugend war gross und sie versuchte mich zu verstehen, auch wenn sie längst nicht mit allen meinen Entscheidungen einverstanden war.

Spaghetti napoli und niemand will jassen

Die Welt wurde gefährlich, Vater Bush griff den Irak an und Europa hielt den Atem an. War das jetzt der Dritte Weltkrieg? Der Anfang vom Ende? So kurz vor dem neuen Jahrtausend das Aus für unsere Welt? «Ach, Käterli, mir ist es ja langsam egal. Es sterben mir alle weg und ich muss nicht zwingend auf dieser Welt bleiben. Aber deine feinen Spaghetti, die würde ich schon vermissen!»

«Edith, wir machen es so. Sollten die Sirenen heulen und uns auffordern, einen Luftschutzkeller aufzusuchen, setze ich Spaghettiwasser auf. Dann telefoniere ich dir, damit du kommst, und wenn du hier bist, ist das Essen bereit. Wir trinken feinen Wein, mein kleiner Sohn darf auf seinem geliebten Fell einschlafen wie gewohnt und mein Hund braucht nicht auf der Suche nach Essen durch menschenleere Strassen zu streunen.»

«Oh ja! Ich komme sofort! Auch ich will nicht in einen Keller! Mit so vielen Leuten, die ich gar nicht so eng bei mir haben will!» «Stell dir vor! Da bist du zu zwölft in einem Massenschlag und ein Eingesperrter kriegt einen Tobsuchtsanfall! Oder niemand will mit dir jassen. Gar nicht zu sprechen von möglichen Engpässen bei den WCs oder dem Gefurze und Geschnarche während der Nacht!» «Nein danke! Ruf mich an! Ich bring eine gute Flasche Wein mit!»

Der Dritte Weltkrieg brach nicht aus. Gestorben wurde trotzdem. Ediths Mann starb – das war keine Erleichterung. Vielleicht eine Erlösung, denn auch Noldi musste Schmerzen leiden, aber Edith lebte fortan alleine in ihrem Haus. Weiterhin ging sie fast jeden Tag einkaufen und einmal wöchentlich fuhr ich von meinem neuen Wohnort zu ihr. Sie kochte jeweils Lauch mit Saucisson vaudoise oder einen kleinen Schweinsbraten, etwas, was sie für sich alleine nie gekocht hätte.

Dann starb mein Vater, ein Jahr darauf seine Partnerin, die ebenfalls zu einer sehr guten Freundin Ediths geworden war. Edith und ich blieben zurück. Sie als dauernde Pflegerin von Sterbenden, ich als Hüterin einer Idee meines Vaters. Wir hatten einander, Edith und ich. Von den Hinterbliebenen bekamen wir keine Unterstützung – wir wurden nicht mehr gebraucht.

Wie ich Edith adoptierte

Also adoptierte ich Edith zum Spass als «Ersatzmutter» und im Ernst als Grossmutter für meinen Sohn. Zu allen grossen Feiern begleitete sie uns. Obwohl Edith inzwischen gar vierfache Grossmutter war – an Weihnachten war sie immer alleine, sogar am Muttertag. Wir feierten fortan zusammen, sogar ins Tessin in die Ferien kam sie mit.

Ich hatte Freude, wenn sie kam, ich hatte aber auch Freude, wenn sie wieder ging. Das wussten wir voneinander. Wir brauchten einander genauso, wie wir die Unabhängigkeit voneinander brauchten.

Ja, und dann wurde Edith alt. So alt, dass sie nicht mehr alleine in ihrem Häuslein bleiben konnte. Ihre Kinder, beide einige Jahr älter als ich, waren plötzlich sehr darauf bedacht, ihre alte Mutter nicht mehr so oft alleine zu lassen. Weihnachten wurde gefeiert! Weihnachten! Etwas, was sie jahrzehntelang mit mir feierte. Aber jetzt war sie schliesslich im Altersheim, in einem Rollstuhl. Da konnte sie nicht einfach weglaufen. Und im Altersheim wurde Weihnachten bereits am 22. Dezember gefeiert.

Wir hatten ausgemacht, dass ich Edith am 24. Dezember zu mir hole und sie über die Feiertage bei mir bleiben kann. Sie freute sich sehr auf diesen kurzen Urlaub vom Altersheim, aber am Tag zuvor telefonierte sie, dass sie sich zu schwach fühle und nicht verreisen möchte. Wir verabredeten uns zum Mittagessen.

Am 25. Dezember, da hatte sie kein halbes Jahr mehr zu leben, fuhr ich also mit meinem Lebensgefährten, der dank Ediths Hartnäckigkeit sogar zu einem valabeln Jasspartner geworden war, ins Altersheim.

Wie immer war das Essen hervorragend und die Bedienung sehr zuvorkommend. Plötzlich war Edith wieder unternehmungslustig. «Ich komm mit. Ich pack nur schnell mein Necessaire und meinen Pyjama in eine Tasche, dann bin ich bereit!», sagte sie entschlossen. Als wir mit Edith im Rollstuhl das Heim verliessen, bemerkte ich ein Zögern bei der Betreuerin. Etwas wollte sie uns sagen, aber dann liess sie es bleiben.

Ich konnte mir vorstellen, was es war. Das Leben ist lebensgefährlich, da nützt es uns nichts, passiv auf den Tod zu warten! «Edith! Du weisst, ich mag es dir sehr gönnen, wenn du am Morgen tot im Bett liegst», sagte ich zu ihr, denn sie sprach schon viele Jahre davon, dass es das Schönste sein müsse, am Morgen zu erwachen und zu merken, dass man tot sei.

«Bitte stirb jetzt einfach nicht gerade bei uns!»

Edith lachte. Wir sprachen oft so direkt über das Sterben zusammen. «Keine Angst! Das tue ich euch nicht an! Obwohl es natürlich verlockend wäre!» Edith wurde am kommenden Abend wohlbehalten ins Altersheim zurückchauffiert. Bis am späten Nachmittag sass sie noch mit uns und hundert Verwandten und Freunden im Kino und genoss die Gesellschaft in vollen Zügen.

Wenige Tage später rief mich ihre Tochter an. «Ich hab mit dem Arzt gesprochen. Der Zustand von Edith ist sehr ernst. Sie wird sterben. Vielleicht schon in diesem Monat!» Jeder Mensch wird sterben! Sie hätte auch an Weihnachten bei uns sterben können! Warum hast du uns nicht daran gehindert, deine Mutter aus dem Heim zu nehmen?, dachte ich. Aber ich sagte nichts.

Und dann wurde sie noch häufiger besucht. Von Tochter und Sohn jeweils getrennt, denn sie standen in Konkurrenz. Selbst aus dem Ausland reisten ihre Enkel heran, um die Grossmutter zu besuchen, solange sie noch da war. Als sie noch alleine in ihrem Häuschen lebte, hatte sie viel seltener Besuch. Dann starb sie, gerade, als die ersten heissen Tage kamen. Ich habe mich immer gefragt, warum das Verhältnis zwischen ihren Kindern von Eifersucht geprägt war.

Warum selbst mir eine Mauer der Distanz entgegenschlug, als Edith im Altersheim lag. Überall Fotos von meiner kleinen Familie. War Edith für mich die Mutter, die sie nie für ihre eigenen Kinder sein konnte? Ich vermisse sie sehr. Und es macht mich unendlich traurig, dass ich diesen Schmerz nicht teilen kann.

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