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Adrian Hürlimann

Diktatur der Reichweite?

Die Qualität der Schweizer Medienlandschaft wird angezweifelt. Gespart wird, zum Beispiel, beim Feuilleton. (Bild: dor)

Alle Literatur beginnt mit der morgendlichen Zeitung, dem täglichen Ärgernis. Die Stadt Zug hat Kurt Imhof eingeladen, den Präsidenten des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft der Uni Zürich.

Alle Literatur beginnt mit der morgendlichen Zeitung, dem täglichen Ärgernis. Die Stadt Zug hat Kurt Imhof eingeladen, den Präsidenten des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft der Uni Zürich. Wie ich beim Z’morgekafi, schimpft auch der Professor des Öfteren über den Zerfall der Qualitätszeitungen und deren Verdrängung durch boulevardeske Gratisangebote. «Erosion der politischen Berufskultur» nennen seine Forscher das im eben vorgestellten Jahrbuch der Stiftung. Gerne wäre ich dabei gewesen am 13. November, aber ich bin wieder mal in Berlin. Deshalb formuliere ich hier, was ich dort gern gesagt hätte.

Seine Diagnose in Ehren: Rasch konsumierbares Infotainment allenthalben, ob in Print oder Online, Zusammenlegung ganzer Redaktionsteams in «Newsrooms», rote Zahlen infolge schwindender Inserateeinnahmen bei den Qualitätszeitungen. Klar. Bereits wird von Medienförderung gemunkelt – die nötig sei, und neidische FDP-ler träumen vorschnell von Ausgewogenheitsdiktaten, die den Fokus von der SVP nehmen könnten. Leiden wir unter einer «Diktatur der Reichweite»?

Natürlich stört es mich, dass der «Tages Anzeiger» seine Kulturredaktion dezimiert hat, das Korrespondentennetz verdünnt, die Zeitung überhaupt immer dünner daherkommt. Natürlich stört es mich, dass ich seit einiger Zeit den Frontkommentar des zweiten, regionalen Leibblattes nicht mehr mit dessen Weltklasseformat vergleichen kann, weil dieser auf die Seite 2 entrückt worden ist. Geblieben aber ist der tägliche Abgrund, der sich zwischen «Tages Anzeiger» und dem unsäglichen Kopfblatt der «Neuen Luzerner Zeitung» auftut, auf das wir im Kanton Zug seit vielen Jahren angewiesen sind.

Bei der «Neuen Zuger Zeitung» ist der singuläre Job des Kulturredaktors bereits vor Jahren gestrichen worden. Das Blatt bringt überhaupt keine recherchierte Frontstory zustande, die den Namen verdienen würde, und hält sich überwiegend an die von der Zentralredaktion in Luzern vorgegebene und vorgedruckte Agenda. Dem Anschein des Zugerischen wird allenfalls im regionalen Bund entsprochen, wo provinzielle Hofberichterstattung und die Würdigung von Nicht-Ereignissen für beschleunigten Tiefschlaf sorgen.

Für Adrenalinspitzen greife ich dann jeweils zu den zugbezogenen Recherchen des zürcherischen Nachbarblattes. Regelmässig werden unsere Diskussionsthemen dort gesetzt und unser Kopfblatt zieht dann widerwillig und verspätet nach, wobei es gut und gern Monate verstreichen lässt (Beispiel: Rohstofffirmen bilden keine Lehrlinge aus).

Dass man gut daran täte, wenigstens den Anschein zugerischer Aktualität auf der Frontseite behaupten zu wollen, versuchte ich der Redaktion per Leserbrief anzuregen. Die Antwort war ein höhnischer Hinweis auf «Rufschädigung», mit welchem der gutgemeinte Tipp in den Papierkorb befördert wurde. Überflüssig, zu erwähnen, dass auch die Kulturberichterstattung von Luzern bestimmt und grossmehrheitlich bestückt wird.

So sieht’s aus. Kein Wunder, dass die tägliche Pflichtlektüre des Regionalen – immer zuerst die Leserbriefe – in wenigen Minuten erledigt ist, während der «Tages Anzeiger» mitunter zu geistigen Höhenflügen führt, die Artikel sofort ausgeschnitten und zwecks Diskussion mit Kollegen und Bekannten zu Stapeln geordnet über den Küchentisch verteilt werden. Welt tut sich auf und Material zur Horizonterweiterung stapelt sich. So war es, als ich zur Schule ging und so wird es immer sein in meinem Leben. Meine Eltern habe ich nicht anders in Erinnerung. 

Peter von Matt (Gottseidank, nun sind wir wieder bei der Literatur!) hat auf die Tendenz zur Agglomeratisierung des Kulturraums Zentralschweiz hingewiesen, und wenn ich unser Kopfblatt betrachte, dann scheint mir dieser Prozess in meinem Kanton bereits unwiderruflich fortgeschritten. Lösbar wäre die Situation allenfalls dann, wenn die Regionalzeitung auch Leserbriefe zu überregional (also bei der Konkurrenz) angerissenen Diskussionsthemen ermutigen und zulassen würde. So könnte sie als Diskussionsforum für anderswo recherchierte Berichte fungieren und den undurchdringlichen provinziellen Nebel verdunsten lassen. Reagieren und auf Themen setzen, statt Feuerwerke aus Nebelgranaten ans Firmament malen! Harte Fakten statt Wellness- und Publireportagen! Zündstoff statt Boulevard!

Der grosse Bruder und Konkurrent der «Neue Zürcher Zeitung»-Adoptivtochter blickt nicht immer Richtung Zentralschweiz, aber wenn er es tut, sind wir dankbar. Der Schwester von der Falkenstrasse übrigens auch. Der globale Wirtschaftsstandort Zug und seine Helfer sind auf investigativen Journalismus und findige Recherche angewiesen, wenn er demokratisch kontrolliert werden soll, auf Distanz und Einordnung. Alles andere bleibt unter dem Radarschirm.

Nicht der Qualitätszerfall der Presse ist also hierzulande das Problem, sondern die unselige Arbeitsteilung zwischen Provinz- und Metropolblatt. Der regionale Inhalt leidet unter einer Inflation des Belanglosen, Vereinsmeierischen. Für Hintergrund und Kultur sind wir auf die überregionale Presse angewiesen. Statt über die Probleme der Nachbarkantone mehr zu erfahren, lesen wir alles über Luzern und plagen uns durch den mediokren Mantel des nationalen und internationalen Bundes, den wir in den Flaggschiffen kompetenter bearbeitet vorfinden.

Doch gemach! Es gibt einen neuen Player, der – auch für Zug – immer deutlicher Gegensteuer zu geben vermag: Das Online-Magazin zentral+. Es deutet die Richtung an, in die es gehen müsste: Provokation statt Kalenderblattbesinnlichkeit, Diskussion statt Bevormundung, Debatte statt Verlautbarung! Wir hoffen und kommen eventuell gar vom Rhythmus des frühmorgendlichen Ganges zum Briefkasten ab.

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