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Von der Endlichkeit des Zeitlichen

Die Zeit verschwindet – und ich mit ihr

Alte historische Standseilbahn, keine hundert Jahre vor meiner Zeit. (Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Adrian Hürlimann denkt sich auf einer Bergfahrt aufs Stanserhorn in die Entstehungszeit der epochalen Bahneinrichtungen zurück. Hier sieht sich unser Literaturblogger auf einmal mit der Endlichkeit des Zeitlichen konfrontiert, das er dereinst segnen wird.

Auf der Gondel der Cabriobahn Richtung Stanserhorn unterwegs, sehe ich unter mir das unnütz gewordene alte Geleise der ersten Bahnführung, schmal und auf ein zierliches Fundament gebettet, von Büschen teilweise überwachsen. So zierlich, so zerbrechlich war es also zugegangen, als die erste grosse Welle von Touristen aller Nationen auf den stolzen Bergriesen gespült wurde. Schon die Talstation hatte in ihrem Laubsägeli-Stil an die Gründerzeit erinnert, der untere Teil der Strecke mit den Holzbänken im steilen Winkel an die Belle Époque schlechthin.

Mein Respekt vor den kühnen Unternehmungen der damaligen Pioniere wuchs von Meter zu Meter. Welch einmaliges, orgiastisches Erlebnis muss ihnen das unaufhaltsame Emporsteigen in immer höhere Sphären, in den immer grosszügigeren Rundblick bereitet haben! Welch ein Gefühl des Übermutes, welch ein, von avancierter Technik abgesichertes, Wagnis waren sie da eingegangen!

Welch opulenter Erlebnispark sollte sie da oben empfangen, welch ein Spitzenambiente, das ihnen die gesamte Bergwelt wie auf dem Silbertablett vor Augen servieren sollte, die Aufsicht der Landkarte ruckartig in den Panoramablick aufklappend. Welch grenzenlose Inszenierung, welch festliches Heben des Vorhangs vor dem Schauspiel des Überflusses an Welt, an Nation und Heimat.

Gegenwart: Auch nicht mehr, was sie mal war

So musste es gewesen sein. Als uns noch keine Drohnen mit ihrem allgegenwärtigen lästigen Überblick für jedes Erlebnis immunisierten, keine Satelliten über uns selbst und unsere intime Umwelt, die Erreichbarkeit in Echtzeit, dreidimensional und in auf Mikro- bis Makro eingestellter Sicht, simulierten. Flugzeuge und Luftschiffe waren noch nicht einsatzbereit, aber der Wunsch nach mehr, nach höher und weiter wurde nun bereits geweckt. Der Alltag, die Realität in neuer Perspektive als Erlebnispark. Die Natur als Angelegenheit des Spektakels, des Genusses.

Die gewohnte Umgebung mit ihrem blassen Angebot an Langeweile und kleinen Aufhellern, sie war auf diesem Ausflug ins Unermessliche erhöht. Welche Euphorie muss die Menschen damals ergriffen haben, welche Erwartungen an die Zukunft, an die Technik, an die Verbesserung der Menschenwelt: sichtbar lag sie vor Augen, unzweifelhaft, und ja: kaum in Stein gemeisselt, vielmehr in Stahl gegossen.

Wie mir geschieht

In dieser Rückbesinnung auf die Entstehungszeit dieser bewundernswerten Technik und des neuartigen, überwältigenden Genusses wurde mir auf einmal bewusst, wie kurze Zeit diese Unternehmung zurücklag: keine hundert Jahre, seit ich auf dem Planeten aufgetaucht war und mich hier eingerichtet hatte.

Die vergangene Welt der touristischen, sozusagen jungfräulichen Errungenschaften, die mir so weit weg und unerreichbar schien, sie musste von mir unbeobachtet eine stete Verwandlung ins Gewohnte, Unspektakuläre durchlaufen haben. Je länger diese Bahn die Schienen herauf- und heruntergewackelt war wie eine Pendeluhr, desto stärker hatte sie sich unmerklich ins Gewohnte gefügt und war nach und nach dahin verblasst. Lapidare Nostalgie hatte dem Wagnis den Garaus gemacht und allen Rausch des Erlebten abgetötet.

Aber war das, was hier das Altern der Materie bewirkt und in und um mich ausgelöst haben musste, war das nicht ein Verschwinden der Welt in mir selbst? War ich nicht genauso gealtert in dieser Zeitspanne? Hatte dieses Verblassen der farbenfrohen Eindrücke, der heiss gefühlten Erlebnisse nicht auch bei mir, an mir Spuren hinterlassen? Hundert Jahre sind eine kurze Zeit, wenn man sie mit einem Lebensalter vergleicht.

Aneinandergereiht ergeben diese, jeweils zeitgenössischen Etappen die Geschichte, die sich meiner individuellen Warte entzieht und der mein Ableben gleichgültig sein wird. Meine Person wird darin eingehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Allenfalls werden für meine Generation einige Worte abfallen. Deren Einordnung in die Annalen der Gegenwart hat ja schon längst begonnen.

Höhepunkt in Sicht

Ja, je weiter ich emporsteige, nun umgestiegen in die Seilbahn mit ihrer Plattform unter freiem Himmel, je näher das Ziel des Gipfels in Sichtweite erscheint, desto weiter zurück schweifen meine Gedanken, desto kürzer werden die Epochen, die mich und mein Erdensein betreffen, desto weiter öffnet sich der bewusste Horizont, der vor einigen Minuten seinen Anfang im Tal und im Jahr 1893 nahm, als die Hoteliers ihre Vision einer Tourismuswelt möblierten und daraus ihr vorzeitiges Disneyland entwickelten, ganz ohne Micky Maus und Sprechblasen, nur auf eine technische Innovation in der Versuchsanordnung setzend: auf eine massentaugliche, gigantische Veränderung der Perspektive.

Das Ensemble, in dem ich aufgehoben bin, befördert meine kurzzeitig ins Tal abgesackte Euphorie. Die darin vorgesehene nächste Station wird die faszinierendste des ganzen Ausflugs sein, dessen bin ich mir gewiss, und die Erfahrung des rundum ins Unendliche ausschweifenden Panoramas wird in mir einmal mehr die Alpensinfonie von Strauss ertönen lassen – in Cinemascope, wie ein Dirigent sie einmal liebevoll verballhornte.

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