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Gedanken eines Nichtstuers

Die Welt von unten – ein gehöriger Aussetzer

Nur im Sommer findet man sich von der Natur umzingelt. (Bild ahü)

Der Sommer verlockt Blogger Adrian Hürlimann einmal mehr zum Ausspannen und Abschalten. In der Bodenhaltung der Graswurzelperspektive gelingt ihm das meditative Unterfangen am besten.

Wie wird sich der Schatten bewegen und wohin? Bin ich hier richtig, oder muss ich mich mehr zum Gartentor hin verlegen? Über mir türmen sich die Wolken, nach Westen hin verschwinden sie hinter dem Grat, der das Tal seitlich begrenzt. So habe ich schon lange nicht mehr im Gras gelegen, nackt und nicht einmal behutet.

Als wir noch klein waren, schien es uns richtig und natürlich, in den Sommerferien einen sichtbaren Sonnenbrand einzufangen, sozusagen als Höhepunkt der Erlebnisse in der warmen, nun eben den  Superlativ der Hitze erreichenden Auszeit, in der es keine Aufgaben zu erledigen, nur dem Lustprinzip sich hinzugeben galt.

Die Zeit des Nichtstuns schien uns ewig anzudauern. Dies alles muss prägend gewirkt haben fürs ganze Leben, denke ich. Ganz wie die exzessive Sonneneinwirkung beim Kleinkind, die später zu Hautkrebs führen kann. Eine Eidechse zittert ruckartig an meinem Körper vorbei. Ich verhalte mich bockstill, um sie ja nicht zu stören.

Dieses Jahr scheint es nur ganz kleine Tierchen zu geben. Skorpione hatte ich bisher auch keine entdeckt, unter den Mauersteinen, wo ihr Versteck andere Jahre gewesen war, blieb es leer. Der Kuckuck, der hinter dem Haus im nahen Wald stundenlang getönt hatte, den die Nachbarn mit der Zeit nervig fanden, zumal er von einem fernen Artgenossen Verstärkung erhielt, er war ebenfalls nicht mehr zu hören.

Die Echse turnte indes über Grashalme hinweg, die ihr wie riesige Dschungelpflanzen vorkommen mussten. Ein winziges Exemplar dieser Sorte hatte ich vor Tagen im Haus entdeckt, auf dem Plankenboden, wo es sich blitzartig in eine Lücke verzogen hatte. Die würde schon wieder hinausfinden, durch die offenen Fenster auf den Balkon, meinte K. Sie ist gestern zurückgereist in den Norden, wo das Wetter beinahe gleich hohe Temperaturen aufweise.

«Es werden Temperaturen bis soundsoviele Grade erreicht», pflegte das Radio in letzter Zeit anzukündigen, und ich wunderte mich, ob es sich hier um Spitzensport handeln könnte. All diese Gedanken verloren sich irgendwann im grünen Dickicht, dem Spiel des Lichts zwischen Blattwerk und Himmelblau, vor der Richtungslosigkeit meines Tagesablaufs kapitulierend.

Nichts gab es zu erledigen, zu befürchten, auszuführen, nachzuholen, vorzubereiten. Ich erinnere mich an den kühlen Brunnen, der hinter mir darauf wartet, dass ich ihn mit meinem schweissigen Körper ausfülle, das Wasser zum Ansteigen bringe, sodass es vom Überlauf lautstark weggeschlürft wurde. So wird es sein, und zwar bald.

Braun genug bin ich ja nun, und um die weissen Stellen anzugleichen, kann ich den Kopf ja auch im Schatten platzieren. Genau das werde ich tun, wenn ich mich im Wasser erfrischt und abgekühlt haben werde. Schliesslich wandert die Schattenlinie gemächlich und kaum wahrnehmbar von mir weg und überlässt das Exponat, also mich, der sengenden Einwirkung des Lichts.

Vitamin D 3 ist gesund, in meinem Alter wird weniger davon produziert, erinnere ich mich. Für die Winterzeit hat mir mein Hausarzt einen Vorrat an Tropfen mitgegeben. Das sei gut gegen alles, sogar gegen Alzheimer, und die Schwangeren sollten es schon vor dem Gebären einnehmen. Das Gras juckt, weil ich es vorgestern gemäht habe und es deshalb, im Bürstenschnitt nivelliert, einen gepflegten Eindruck schindet.

Ich meinerseits tue das kaum, wenn ich so untätig herumliege, und meine Textillosigkeit könnte Anstoss erregen, wenn jemand übers Gartentor hineinschielen sollte. In der oberen Leventina galt es bereits als anstössig, wenn man beim Heuen die Gabel oben ohne stemmte, hatte mir ein Freund erzählt.

Der Pfarrer hat dort halt das Sagen und der Milieukatholizismus, der ihn im Griff hat, den gibt es dort immer noch, der hat die Lega und die SVP bestens überstanden. Gestern hatte ich im Büchergestell den Film «Wag the dog» entdeckt und auf dem alten Compi zum Laufen gebracht. Da wird ein Fake-Krieg entfesselt, der nur im Fernsehen ausgetragen wird, als Ablenkungsmanöver für den Skandal um den Präsidenten und seinen Übergriff an einer Minderjährigen.

So soll seine Wiederwahl gesichert werden, und es gelingt den beiden Strategen, gespielt von de Niro und Dustin Hoffman, patriotische Kriegshelden zu mobilisieren und das telegen bespasste Land in einen Zustand patriotischer Verzückung zu versetzen. Das liegt einige Jahre zurück, rekapituliere ich. Aber es droht sich gerade zu wiederholen.

Das Internet ist viel einfacher zu bedienen als die Fernsehöffentlichkeit damals. Wann habe ich zum letzten Mal Zeitung gelesen? Nein, ich beschliesse, es dieser Tage sein zu lassen. Das Radio und das Smartphone werde ich ebenfalls nicht einstellen. Jetzt gilt es, den Bienen zuzuschauen, wie sie hartnäckig um die Blüten taumeln.

Vielleicht werde ich einige der Trauben kauen, Chatzeseicherli, wie sie meine Mutter genannt hatte, ab und zu die dicken Häute ausspuckend. Sauer, aber vitaminreich. Und da sind diese Kumuli, teilweise wie Blumenkohl, die sich zu einem gigantischen Tor auftürmen, grellweiss erleuchtet durch die Abendsonne, die wie eine Deckenlampe auf mich herabzündet.

Sie wird bald hinter den Dampfarchitekturen verschwinden, aber möglicherweise noch einmal auftauchen in dem riesigen Tor, das da gebildet ist und vorderhand noch ein rundes Stück Blau umrahmt.  Hintergrund. Im Vordergrund aber summt, zittert, fleucht und kreucht es, wie auf Ernst Kreidolfs Bildern, grünt es in allen Schattierungen. Und die Sonnenuhr dirigiert ein unendlich langes Werden und Vergehen, in dem ich irgendwo vorkomme und eines Tages nicht mehr.

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