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Christine Weber

Die Mitte der Schweiz

Mitte der Schweiz (Bild: Christine Weber)

Die Älggi-Alp in Obwalden gilt als Mittelpunkt der Schweiz. Christine Weber zweifelt daran und findet ihn woanders.

Der weisse Zacken des Wetterhorns wird von Nebel verschluckt. Nach einem letzten Blick zurück,  geht es gegen Obwalden hinauf. Die Matten sind saftig, unter den Sohlen gurgelt der Schlamm. Noch kann man den Kuhfladen ausweichen, den Schlammlöchern entgehen. Ein paar Hundert Höhenmeter weiter ist Schluss damit. Tagelanger Regen hat die Erde aufgewühlt, eine glitschige Brühe aus Schlamm. Aus dem Gurgeln unter den Schuhen wird ein Schmatzen, dicke Klumpen aus Lehm und Dreck hängen sich bleischwer an die Sohlen. Die Hufe der Alpenviecher haben tiefe Löcher in den Boden gegraben, Schleifspuren von schweren Leibern, die sich den Pfad entlang schleppten, und da stehen sie schon und glotzen. Dampf steigt aus ihren Leibern, träge drehen sie die Köpfe. In ihren Augenwinkeln schwimmt Schleim, Fliegen kreuchen darin herum. Bis auf das schnaubende Atmen der Tiere ist nichts zu hören. Ich schiebe mich durch dicke Bäuche, meine Haut berührt glattes Fell, feuchte Nüstern schubsen mich. Kaum durch den Fleischberg hindurch, drehen sich die Kühe um und folgen mir, verfolgen mich. Ein Dutzend von ihnen trampelt beängstigend geschickt im Sumpf um mich herum. Dann endlich ein kleiner Bach. Ich springe hinüber, die Tiere bleiben glotzend zurück.

Im Nebel taucht eine Alp auf, mitten im Matsch eine einfache Hütte. Ein Mann steht in der Tür und schaut zu, wie ich durch den Schlamm balanciere, ausrutsche, von Stein zu Stein hechte und endlich vor der Hütte stehen bleibe. «Saudreck», sagt er und ich nicke. Er schaut mich mit zusammengekniffenen Augen aus einem Gesicht an, das so gefurcht ist wie die Berge ringsum. Er sagt etwas in einem mir beinahe unverständlichen Dialekt, lacht und öffnet die Tür. Nein, die Schuhe müsse ich nicht ausziehen. Dreckig sei es sowieso.

In der Hütte ist es düster und kühl, es riecht nach kaltem Rauch. Über der Feuerstelle hängt ein schwarzer Kessel, in der Mitte des einzigen Raums steht ein Holztisch. Der Mann holt eine Flasche aus dem Schrank und schenkt zwei Gläser voll. Schnaps mit wildem Wermuth. Oben in den Felsen wachse das Kraut, wo genau wisse keiner ausser ihm. Er stellt einen dicken Laib Käse auf den Tisch und schneidet grosse Stücke ab. Seine Hände sind knochig und braun gebrannt, die Finger krumm wie ein Wurzelbaum. Der Schnaps brennt im Hals und ich höre zu, wie der Mann von seinen einsamen Tagen erzählt. Vom Vieh, das es zu versorgen gilt, der Kuh, die kurz vor dem Kalbern ist, dem Hund Bäri, der unter den Traktor gekommen ist, den Söhnen, die morgens und abends zum Käsen und Melken kommen, den Jahren, die er als junger Knecht hier verbracht hat und noch immer hier verbringt, den Unwettern, die Schlamm und Geröll zurücklassen, dem Stier, der einen Senn aufgespiesst hat, den Käsen und Würsten, die hier besser sind als anderswo, den kalten Nächten voller Sterne, dem jungen Gehilfen aus der Stadt, der auch im Winter mit nackten Füssen herumläuft und die Stiefel nur zum Misten anzieht, den Fischern, die weiter oben am See Forellen fangen, den Deutschen auf den Nachbaralpen, die sich gar nicht so schlecht machen als Sennen, den Fremden, die manchmal den Weg zur Hütte finden und manchmal auch nicht. 

Nach dem zweiten Schnaps stehe ich auf. Der Mann begleitet mich ein Stück und zeigt den Weg, der zur geografischen Mitte der Schweiz führt. Ich bedanke mich und stolpere durch den Morast, der Alp Aelggi entgegen. Dort angekommen ist es genauso schlammig und dreckig, der Nebel lichtet sich nicht. In der Beiz sitzen lauter rüstige Rentner mit Stöcken, Mobiles und Bierhumpen und ich denke, dass die Mitte der Schweiz nicht hier ist, sondern dort oben in der Hütte bei dem Mann mit den Fingern, die so krumm sind wie ein Wurzelbaum.

 

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