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Warum schreiben wir keine Briefe mehr?

Die Magie der Briefe. Zweiter Teil.

Briefe sind etwas wundervolles – wieso schreiben wir keine mehr? (Bild: fgr)

Erinnern Sie sich noch an Chris und Bessie, die beiden Verliebten aus dem Buch «Briefe!», von denen ich vor ein paar Wochen erzählte?

Zwischen den Seiten sind sie sich nun viel nähergekommen. Neuerdings klingt es so -- Chris an Bessie: «Willst du mich heiraten? Gute Gründe gibt es nicht dafür, aber die einzige Ausrede, die ich dir bieten kann, ist die, dass ich dich immer lieben werde, auf meine Art. Antwort mit normaler Postkarte, ja?»

Madame de Sévigné kommt natürlich auch zu Wort. Ihre Briefe wurden posthum editiert, und es kamen gegen zwei Dutzend Bände zusammen. Sie berichtet lebhaft und witzig über das Leben ihrer Zeit, die Verschlingungen am Hof, die heimlichen Zerwürfnisse und noch heimlicheren Zusammenkünfte. Der gehobene Blick von damals.

1686 verfasst ein Mann namens Philip,  zweiter Earl von Chesterfield, ein handgeschriebenes Brevier voller Ratschläge zu Themen, die damals von Interesse waren. Griechische und römische Bildung, Mathematik, Satzbau, Teile aus Descartes' Schriften. Falls wir uns ein Bild machen möchten, wie es in diesem Buch klang, überlässt uns Garfield ein anschauliches Muster. Einen Aufsatz über die Liebe: sie «ist ein angenehmes Übel, ein verborgen Gift, ein rasend Fieber, eine Krankheit, die nicht leicht geheilt ist, ein gefälliger Tod und manchmal ein grosses Unglück».

Alles in allem ein erstaunlich negatives Bild des höchsten aller Gefühle. Steht es vielleicht damit in Zusammenhang, dass das, was wir heute Liebe nennen, damals noch gar nicht ersonnen war, weshalb Liebe und Leidenschaft am Hofe wie auch in Bürgerhäusern nur heimlich ausgelebt werden konnten?

Ehe als Geschäft

Diente eine Ehe nicht als Geschäft zur Mehrung von Besitz und Geltung, wie auch zur eigenen Absicherung gegen Gefahren wie Krankheit, Krieg und Verarmung? Und da die Kirche als Ehestifterin waltete, erlaubte sie keine Heirat ohne Geld, ohne Hab und Gut. Es wurden daher uneheliche Kinder ohne Zahl geboren und waren der Verachtung ausgeliefert. Was ihnen angetan wurde, würden wir heute Mobbing nennen. Und es dauerte bis in unsere Zeit, dass die unerwünschten Kinder in Heime kamen, wo sie oft argen Misshandlungen ausgesetzt waren.

Die Briefe schreibenden Adelsleute kümmerte das wenig. Sie kannten Mittel und Wege, einigen ihrer sogenannten Bastarde zu ihrem Recht zu verhelfen.

Das ist jedoch nicht mein Thema heute. Denn der Zweite Earl von Chesterfield liess es nicht bei seinem Traktat über Liebe und Allgemeinwissen bewenden. Er verstieg sich auch dazu, eine Anleitung zum Verfassen von Briefen zu schreiben.

So rät er: «Schreibst du an eine Königin [...], beginne deine erste Zeile drei Fingerbreit vom unteren Rand des Papiers [...]. Schreibst du an eine Herzogin, beginne in der Mitte des Papiers. Schreibst du an eine deines eigenen Standes, lasse den Abstand von drei oder vier Fingern Breite zwischen Anrede und erster Zeile. Und schreibst du an irgendeine Gemeine, so beginne in der ersten Zeile mit ‹Mrs.›» und schreibe in derselben Zeile oder gleich darunter weiter.»

Bei Angehörigen desselben Standes musste die Grussformel «gehorsamst ergebene Dienerin» lauten, war die Empfängerin hingegen eine Gemeine, musste «Ihre geneigteste Freundin» genügen.

Heinrich von Kleist und Henriette Vogel

Es war die Zeit, in der sich die Alphabetisierung mehr und mehr ausbreitete, während die Post zur immer zuverlässigeren Partnerin wurde. Das Briefeschreiben blieb dagegen bis ins neunzehnte Jahrhundert, als die staatlich verordnete Schulpflicht eingeführt wurde, eine Beschäftigung der mehrbesseren Stände.

Aber es treten auch andere Briefe schreibende Paare in Simon Garfields packendem Buch auf. Darunter der verrückte Heinrich von Kleist, unsterblicher Verfasser langlebiger Bühnenstücke und Erzählungen, die ich sehr mag. Er hatte eine Gleichgesinnte gesucht, die, ohne zu zögern, mit ihm in den Tod gehen wollte. Bemerkenswert war, dass dieser allerdings schon auf der Lauer lag und sich seiner Beute sicher war.

Und die Frau war vermutlich nicht einmal Kleists Geliebte, sondern eher eine gute Freundin. Henriette Vogel litt an einem bösartigen Karzinom, weshalb sie wünschte, das Leid, das unabwendbar war, abzukürzen. Und so hatte auch sie zur Feder gegriffen. Hier ein Auszug an ihren Mann:

«Nicht länger kann ich mehr das Leben ertragen, denn es legt sich mir mit eisernen Banden an mein Herz – nenne es Krankheit, Schwäche oder wie du es sonst magst, ich weiß es selbst nicht zu nennen – nur so viel weiß ich zu sagen, daß ich meinem Tode als dem größten Glücke entgegensehe; [...] Kleist, mein treuer Gefährte im Tode, wie er im Leben war, wird meine Überkunft besorgen und sich alsdann selbst erschießen.»

Auch für Kleist erfüllte sich mit diesem doppelten Sterben der höchste seiner Wünsche. Dabei hätten wir so gerne noch mehr von ihm gelesen und gesehen! Er war erst vierunddreissig. Henriette war drei Jahre jünger.

Die vielleicht berühmtesten Briefe unserer Zeit schrieb sich ein Paar, das sich in inniger Hassliebe bis kurz vor dem Tod verbunden war. Beide dichteten. Mit Leidenschaft und bilderreich, mit Alliterationen und – natürlich mit Poesie. Sie haben es erraten: Silvia Plath und Ted Hughes.

Ohne Seitenblick auf die Öffentlichkeit

Einen der schönsten, ausdrucksvollsten Briefe von ihrem Daddy hatte Silvias Tochter, Frieda Hughes, wohl mit fünfzehn in ihrem Internat in Hampshire empfangen. Es ging gegen Ende des Sommertrimesters, die Heuernte war abgeschlossen, die Erdbeeren hingen rot und prall, «äusserst grüner Regen» setzte ein und brachte all die Heufuder, die eiligst in ihre Unterstände gefahren wurden, zum Dampfen.

Vielleicht war dies nicht der Stoff, der ein Mädchen interessierte, aber sie hob den Brief auf, sodass er es bis ins Literaturarchiv der Emory University von Atlanta, Georgia geschafft hat, und er bis heute ein hervorragendes Beispiel blieb für eine unverkrampft literarische Arbeit ohne Seitenblick auf die Öffentlichkeit.

«Er war noch vor der E-Mail-Zeit verfasst, doch wäre er eine E-Mail, hätte  Frieda ihn aufbewahrt, wüssten wir von ihm?», so fragt Garfield seine Leserschaft. Und kann jemand überhaupt so viel Poesie in eine E-Mail verpacken? Erträgt sie das? Würde sie nicht überladen wirken, affektiert?

Überhaupt ist das Briefeschreiben seit jener Zeit zur grossen Ausnahme geworden. Man könnte fast sagen, sie ist «verschwunden». Ich erinnere mich an den vermutlich ersten Brief meines Lebens. Meine Mutter hatte mich wegen meines Asthmas über den Winter in die Berge gebracht. Gleich nach Weihnachten brachen wir auf, um rechtzeitig in Parpan anzukommen, damit sie noch am selben Abend wieder zu Hause sein konnte.

In Chur mussten wir lange aufs Postauto warten, und sie kaufte mir – oh Wunder! – ein Globi-Buch. Solche Überraschungen vergisst man nie wieder. Ich war erst acht Jahre alt und hatte ein paar Tage lang heftiges Heimweh. Und da schrieb ich einen Brief nach Hause. Neulich habe ich ihn wieder gefunden. Ich schrieb noch nicht fehlerfrei, aber es ging um meinen grössten Wunsch, dass nämlich mein vierjähriges Schwesterlein auch ins Kinderheim käme.

Dieser Brief blieb ohne Antwort, meine Eltern waren in Afrika, und zu Hause sorgte eine ungeliebte Kinderschwester für Ordnung. Danali, mein Schwesterlein, kam nicht. Seither schrieb ich viele Briefe, korrespondierte sogar mit einer sogenannten Brieffreundin. Wir schreiben uns derzeit vielleicht noch einmal jährlich, zu Weihnachten, eine Mail.

Vor etwa drei Jahren bat ich sie, falls sie meine Briefe noch habe, ob sie sie mir senden würde. Es kamen in einer Schuhschachtel drei- und mehrseitige Berichte über geliebte Jungs, ungeliebte Lehrer, verständnislose Eltern und meine Ski, die ich unerhört liebte, weil sie mir eine Ahnung von Freiheit vermitteln konnten und daher sogar einen Namen erhalten hatten. Etwa vor zwanzig Jahren schrieb ich einen der letzten langen Briefe an meine Kinder, als ich im Ausland war. Seither, so wird es mir gerade bewusst, sind es nur noch E-Mails.

Dabei könnte das Schreiben von Briefen als ausgezeichnete Ausbildung für Gespräche mit der Welt verstanden werden, wie Ted Hughes zu Beginn seiner Karriere schrieb. Und er sollte ein produktiver Meister dieser Kunst werden, die Schreiben und Sprechen verbindet.

2007 wurde «Briefe von Ted Hughes» veröffentlicht und es sind 700 Seiten.

Sämtliche Briefe, so zitierte Garfield den Herausgeber, würden vielleicht vier Bände füllen. Vielleicht seien Briefe auch alles, was man brauche, um ihn und seine Biografie zu kennen. So viel leidenschaftliches Denken über kreative Tätigkeit stecke darin, so viel Weisheit über das Wesentliche am Leben und das Verhalten anderer, dass man sich schwertue, beim Kennenlernen dieses speziellen Lebens nicht über das eigene nachzudenken.

Simon Garfield: Briefe! ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege, und den Mann, der sich selbst verschickte. Theiss by WBG 2015

Originaltitel: To the Letter, A  Journey through a vanishing world Canongate Books Ltd 2013

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