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Er sollte nicht bleiben – und blieb

Die Füsse im Krieg

(Bild: Pixabay)

Ich habe ein kleines Gedicht von einem Flüchtling bekommen. Nach dreieinhalb Jahren Warten auf den Entscheid aus Bern fängt für ihn mit dem begehrten Ausweis F ein neues Leben an.

«Meine Albträume sind vorbei! Ich bin als Flüchtling anerkannt worden und einen Politischen F erhalten, damit ich auch reisen, arbeiten und studieren kann. Ich habe immer geträumt, dass ich ein Mensch bin, aber fliegen kann. Unten von mir war Krieg und Taliban und oben dem Krieg flug ich. Manchmal waren meine Federn und Flügel schwach und ich habe fast den Krieg berührt, der gerade passierte. Dann habe ich mir wieder Mühe gegeben und wieder hoch geflogen usw.»

Dieses kleine Gedicht habe ich von einem Flüchtling bekommen. Nach dreieinhalb Jahren Warten auf den Entscheid aus Bern fängt für ihn mit dem begehrten Papier ein neues Leben an. Die Tage und Nächte in Angst sind vorbei, Angst, dass wieder zwei Uniformierte kommen, ihn in den Flieger setzen und zurück in sein Land spedieren. Er trägt ein Kreuzchen auf der Brust, für ihn das Zeichen der Liebe. Um sie zu finden, war er weggegangen vom Terror und einer unbarmherzigen Glaubensdoktrin.

Er war im Geheimen über viele Grenzen gekommen, über Berge und übers Wasser, lebte von Brot und Tomaten, sein Rucksack, seine Taschenlampe wurden ihm gestohlen und dreimal landete er unterwegs als Illegaler schon hinter Gittern. Sein Ziel war eigentlich Calais gewesen von da hätte er übergesetzt nach England, denn Englisch hat er gelernt, er hatte gedolmetscht, Deutsch war ihm fremd. In Zürich fand ihn die Polizei auf einer Bank, als er zum ersten Mal Enten sah, die ohne Angst schwimmen durften, und sie packten ihn und liessen ihn nicht mehr ziehen. Er lernte wechselnde Zentren kennen, schliesslich, als ihm das begehrte Asyl abgesprochen wurde, verschlug es ihn dahin, wo die Sanspapiers leben.

In der neuen Unterkunft herrschte eine reine Männergesellschaft. Araber, Afghanen, Afrikaner, zwei bis drei in einem Schlag, aber auch hier, wie meist in den Unterkünften, herrschte das Chaos. Schuhe und Socken auf dem Tisch, im Kühlschrank stinkendes Essen in halbleeren Tellern und ausgekippter Yoghurt, voller Unrat das WC, die Dusche: ein Desaster. Unvorstellbar, dass dort jemals Ordnung und Sauberkeit, ein friedliches Zusammenleben einkehren würden. Der junge Mensch aus einem Dorf im Land des Hindukusch, wo seine Mutter und sein Vater ein geräumiges Lehmhaus gebaut hatten, wo er Schafe und Ziegen in die Berge gebracht hatte, wo die Aprikosen so süss waren, wie wir Schweizer es uns nicht vorstellen können, vermochte bei all dem Dreck kaum zu atmen. Er suchte ein Spital auf, verlangte einen Arzt zu sehen und bat diesen, ihm zum Sterben zu verhelfen.

Er war illegal über die Grenze gekommen und hielt sich illegal hier auf. Er sollte nicht bleiben – und blieb. Eine Straftat, für die eine Busse geleistet werden muss. Wer sie nicht zahlt, tut es nicht aus Geiz, oder weil er denkt, sie sollen ihm in die Schuhe blasen, nein, weil er schlicht arm ist, mausarm. Er besitzt die paar hundert Franken nicht, die sie ihm dafür, dass er ohne Papiere über unsere Grenze gekommen ist, in Rechnung stellen. Das wenige Geld, das er jede Woche bei der Nothilfe abholen darf, reicht gerade für Brot und Reis, ein paar Bananen, alle paar Wochen ein Stück Fleisch. Hühnerbeine zumeist. Alle paar Monate reicht es für einen Besuch im Brockenhaus, wenn Schuhe, ein T-shirt oder Buch, eine Winterjacke oder Unterhosen nötig werden. Dabei hilft die Caritas mit Gutscheinen zum Einlösen.

Wer aber die geforderte Busse nicht bezahlt, wird eines ungewissen Tages abrupt abgeholt und geht ins Gefängnis. Wieder Handschellen, wieder Ausziehen bis aufs Steissbein und dann zwei bis vier Wochen einsitzen.

Der Mann aus dem Dorf am Hindukusch trifft auf Grossstadtdiebe, Dealer und andere Haudegen, Freunde für kurze Zeit. Der Dieb erteilt freimütig Anschauungsunterricht, wie man den Leuten das Handy oder das Geld aus der Gesässtasche zupft. Nachts hört er sie nach ihren Müttern schreien, und er träumt und weint und schreit genauso nach der Mutter. Vom Krieg und von Bomben träumt er, von einem Mann voller Haare, der ihm die Kehle zudrückt. Und er träumt vom Fliegen, fliegt gefiedert wie ein Vogel aus seinem Dorf über die Grenze, und wenn die Kraft nachlässt, berühren sein Füsse beinah den Krieg.

Je nach Verfassung erzählt er den neuen Freunden mitunter Witze. Von einem Mann namens «Schad ums Brot», dem Webstübler Afghanistans. «Schad ums Brot» wollte einmal von Maschhad nach Tehran fahren. Er fand einen Bus, der hatte zwei Stockwerke. Er fragte den Fahrer, wohin er fahre. Der Fahrer antwortete, er fahre nach Tehran. Also löste «Schad ums Brot» eine Karte nach Tehran. Der Fahrer sagte, er habe aber nur im oberen Stock noch einen Platz. Da wollte «Schad ums Brot» wissen, ob der obere Stock denn auch nach Tehran fahre.

Nach den Wochen im Gefängnis versteckt er sich verängstigt bei einem Freund in einer andern Unterkunft und horcht jede Nacht auf die Geräusche, ob die Uniformierten ihn wieder aus dem Schlaf reissen. Es erfolgt alle paar Wochen.

Oft fragt sich der junge Sanspapiers, warum in Afghanistan keiner je etwas erfunden habe. Was immer sie besitzen an Maschinentechnik stammt aus dem Ausland. Die Elektrizität, das Radio, die Aviatik, sogar der Sport. Das Land war lange ein Zankapfel der Mächte und ist es noch heute. Es zerlumpte und verarmte, Frauen auf dem Land bekommen kaum Bildung, selten Licht oder fliessendes Wasser und müssen an Brunnen und Bächen waschen. Die Taliban verfechten mit grösster Härte die Scharia und knebeln ganze Landstriche damit. Neulich liessen sie allen Bewohnern seines Herkunftsortes ausrichten, sie würden demnächst eine Kontrolle durchführen, wer nicht bete, nicht faste, nicht keusch und nach Allahs Geboten lebe, wer mit den Amerikanern fraternisiere, sei unrein und würde geschlagen. Mädchen, die zur Schule gehen, würden nach Hause geschickt und ihr Schulhaus würde zu Schutt und Asche.

In der selben Woche beschwor die alte Schweiz, die in geradezu feierlicher Stille vor sich hindöste, weil Höhenfeuer und Feuerwerksraketen unterbunden worden waren, wie jedes Jahr in zahlreichen Ansprachen ihre Eintracht. Mit der riesengroßen Fahne, die eine Handvoll Urschweizer unter Lebensgefahr am Abgrund der Rigisüdwand befestigt hatte, machte sie ihren Stolz aufs Vaterland, wie jedes Jahr, weitherum sichtbar. Ganz nach altem Brauch. Es ist schön und beruhigend, in einem Land zu wohnen, in dem man sich frei und sicher fühlen darf. Und nie auf die Idee kommen muss, das eigene Haus, die eigene Familie, den Arbeitsplatz, ja, die Heimat unfreiwillig zu verlassen, um die eigene Würde, mitunter das Leben zu retten.

Der vorläufig Aufgenommene besitzt jetzt einen F-Ausweis, ist also ein anerkannter Flüchtling geworden. Er bekommt trotzdem kein Asyl. Steht das F im Ausweis etwa für «forläufig», denke ich manchmal schnöde. Oder für «Fuss»? Den eingeschobenen Fuss? Damit die Tür immerhin ein Spältchen offenbleibt, die sie früher vor ihm zugeschlagen haben und ihn so der Barmherzigkeit anheimstellten. Tatsache ist, es sickert von der Wärme, dem Licht und der Zufriedenheit, die im schweizerischen Haus zur Eintracht im Überfluss herrschen, endlich etwas zu ihm hin. Und der junge Migrant sagt, dieser Buchstabe in seinem Papier, mache ihn vom Unmensch wieder zum Menschen.

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