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Was der Landesstreik vor 100 Jahren bewirkte

Die Früchte der Freiheit vor dem Freund

Bild: obs/Verein 100 Jahre Landesstreik 2018 c/o Schloss Waldegg/Eve Lagger ots.ch/6025f91

Vor 100 Jahren hat der Landesstreik auch Luzern in einen Ausnahmezustand versetzt. Adrian Hürlimann blickt in seinem Literatur-Blog literarisch gefärbt und politisch angehaucht auf das Ereignis zurück. Und er zieht Parallelen zur heutigen Zeit. 

«Der letzte Zweck des Staates ist nicht, zu herrschen, noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr, den Einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann. (…) Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.» So formulierte Spinoza 1670.

Diesen vergessenen Ladenhüter der angewandten, also relevanten Philosophie zerre ich ans Tageslicht, um einen Blick auf die helvetischen Unruhen zu werfen, die vor hundert Jahren die Schweiz bewegten und an den Rand des Abgrunds führten, welchen die etabliertere Bevölkerung mit einem wohligen Gruseln wahrnahm, ähnlich dem schwindelerregenden Trip auf einem Chilbi-Rollercoaster. Der Abgrund, das war die Weltrevolution, die in Russland jahrs zuvor ihren besitzerschütternden Feldzug eingeläutet hatte. Ein schwaches Echo war auch hierzulande zu vernehmen. Unmögliche, einseitig nur den Lohnabhängigen zukommende Forderungen wurden da gestellt: lächerliche 48 Stunden Arbeit pro Woche, die Finanzierung des untätigen Alters auf Staatskosten, und – ein besonders absurder Witz – das Stimmrecht für die Weiber.

Kollateralschäden der Sicherung

Da galt es im Schweizerland, auf der Hut zu sein. Es ging da blitzartig um die Sicherheit. Um die Sicherheit des Staatsbürgers, wie sie Spinoza anpeilte? Ja schon, aber vor allem um die Sicherheit des bürgerlichen Bürgers, genauer: die des Kapitalisten (Maskulinum – s. o.). Der Bundesrat zog sich bei den sich anbahnenden Ereignissen aus der Verantwortung, indem er die Sicherheit des Landes, sprich: des Kapitals der Armee überantwortete.

Die schoss dann herzhaft in die Herzen der Streikenden, und ab und zu gab es Kollateralschäden an Zivilisten, Frauen und Kindern. So bei den Novemberunruhen in Zürich 1917 (eine unbeteiligte Anwesende), beim Generalstreik in Grenchen (drei Streikende), beim Basler Generalstreik (Auslöser: «Färberstreik») 1919 (fünf Teilnehmende), bei den antifröntlerischen Demos in Genf (13 Tote). Ja, die Armee des Bundes war zuverlässig, wenn es um die Aufrechterhaltung von «Ruhe und Ordnung im Inneren» ging, und fleissig dazu. Wenn es sich darum handelte, die eigenen Väter zu erschiessen, waren die Söhne zur Stelle befohlen (Genf). Und wenn es darum ging, sich an den Spielverderbern aus dem Prekariat, den sogenannten «Landesverrätern», zu rächen (17 Delinquenten), verschmähten die Kommandi die angebotene Extrarunde Schnaps nicht und ballerten ihre Zeitgenossen zuverlässig ins Jenseits. Truppen vom Land und Rekruten waren zur Beauftragung besonders geeignet und leidlich willig.

Rituale gegen das schlechte Gewissen

Aus dieser einseitigen Tüchtigkeit im Dienst der inneren Ordnung heraus lässt sich vielleicht erklären, wieso diese Armee im Weltkrieg keinen einzigen «BöFei» ins Visier genommen hat. Und dies, obwohl sie doch sechs Jahre lang anzutreten hatte, um genau diesen äusseren Feind abzuwehren. Interessanterweise gab es grenzwertig gar nichts zu tun. Keine Aktivität im Aktivdienst. Niemand pochte an die Tür. Es erstaunt deshalb, dass rechte Bundespolitiker aktuell darauf pochen, dass etwa die Luftwaffe à jour gehalten werden müsse, ansonsten man «mit der Sicherheit spielt». Das bisherige Augenmerk galt jedenfalls mehr der Innenpolitik. Ruhe und Ordnung im Äusseren war offenbar nicht unsers. Die faschistisch umgekrempelten Staaten ringsum waren angeblich gar nicht so schlimm, wie gewisse linke und zweifelsohne globalistisch gesinnte Heimatlose damals pausenlos behaupteten.

Sonst hätten sie uns kaum ihr Gold und ihre Devisen anvertraut. Immerhin kam man mit diesen martialisch gesinnten Leuten zuverlässig ins Geschäft, und nicht nur die liberale Führungsschicht plädierte entschieden für eine Anpassung an die realen Machtverhältnisse, nein: Auch die Bekämpfer der atheistischen Sozis in katholischen Landen bekundeten allerhand Sympathie. Das organisierte Germanentum war doch sehr auf seine Sicherheit bedacht und dachte die unsere gleich mit. Und Mussolini hatte (und hat) immerhin den Ehrendoktor der Uni Lausanne. Demokratie war gut und recht, aber gegen die internationalen Kapitalgleichmacher mussten andere Saiten aufgezogen werden. Hitler hätte womöglich auch in der Schweiz Autobahnen gebaut, darüber schweigt man besser. Die Menschenrechte galten damals halt nur für uns. Für Rote und Juden halt weniger. Die da draussen mussten in Gottes Namen für sich selber sorgen. Wir hielten uns raus aus der Geschichte.

Wischen vor der eigenen Garage

Wir hatten ja immerhin eine geistige Landesverteidigung. Die war genauso wertvoll wie die militärische, die zum Glück nie auf die Probe gestellt wurde. Uns brauchte es nicht, um dem Grossen Kanton aufs Dach zu geben. Wahrscheinlich agierten die Alliierten auch nicht so selbstlos. Wir sind ja recht klein, und was nicht ganz so klein ist, die Sicherheit des Kapitals, das sieht man doch gar nicht. Auf den ersten Blick. Unter den Paradeplatz zum Beispiel blickt man ja nicht. Auf Sicherheiten dieser Art ist ein entschlossenes Volk gar nicht angewiesen.

Zu Winkelrieds Zeiten spielten sie keine Rolle, und heute kann es nicht anders sein. Jedenfalls nicht für die Ruhe und die Ordnung. Da ist eben Haltung gefragt und nicht Geld. Den Beizenschluss legen immer noch wir fest, von Kanton zu Kanton verschieden. Wir alle sorgen für die Sicherheit hierzulande, im Ernstfall haben wir die Armee. Das beginnt schon bei der Gesinnung. Dafür war es unabdingbar, dass die Feinde unserer Ordnung registriert und angezeigt wurden, wie es das verdienstvolle Archiv von Ernst Cincera vormachte.

Privatinitiative, Zivilverteidigung, Aussortieren. Davon konnte der Nachrichtendienst Bund nur profitieren. Es ist zwar schwierig, vorauszusagen, wer für uns eines Tages bedrohlich sein wird. Aber gewisse Gruppen, etwa haltlose Intellektuelle, ja bereits etliche Studenten sind dafür gewissermassen prädestiniert. So mussten halt im einen oder anderen WK Manöver durchgeführt werden, welche die Verhinderung ordnungsfeindlicher Demos und anderer unmoralischer Umtriebe von dieser unerfreulichen Seite effizient zu rekognostizieren suchten.

Auch die Versicherungen brauchen ihre Detektive, darüber stimmen wir ja gerade ab. Jeder trennt schliesslich seinen Abfall. Spreu und Weizen, das ist gottgegeben. Sicherheit und Unsicherheit, Ordnung und Unordnung. Darauf müssen wir uns stetig und stets aufs Neue besinnen. Auf unser aller Gewaltmonopol. Wenn nötig, zeigen wir ab und zu, wo Gott hockt. Wenn die Polizei nicht mehr genügt. Dafür haben wir unsere Armee. Die kostet halt etwas. Ruhe und Ordnung im Innern, das ist unsere Hauptaufgabe. Die Grundlage. Die Freiheit? Die besingen wir am 1. August! Die Politik weiss das.

Kriege da draussen überlassen wir den Ausländern. Wir schrecken nur ab, damit niemand kommt. Wir greifen niemals an, agieren nur defensiv. Ausser an Demos natürlich, aber auch dort nur dosiert. Es ist wichtig, dass wir nach aussen hin ein teures Eintrittsbillet propagieren. Nicht zuletzt auch gegen Armengenössige, die von überallher eindringen wollen, um sich an unserem Sozialsystem gütlich zu tun. Da tauchen doch immer wieder Kollaborateure auf, die unsere Freiheit – von all diesem Übel – nicht zu schätzen wissen. Sie sind zum Glück in der Minderheit, und dank Google und Gesichtserkennung haben wir sie ja im Griff.

Zünd› lieber andere an

Sicherheit ist also nur ein anderes Wort für Ruhe und Ordnung. Wenn dies alles stimmt, alle Sicherheitsdispositive, dann geniessen wir dank ihrer ein sanftes Ruhekissen. Jeder achtet in seinem Computer auf die Security, also darauf, dass seine Daten nicht allen da draussen missbräuchlich zur Verfügung stehen. Es leuchtet daher ein, dass unsere Gemeinschaft der Sicheren wiederum die Daten der Volksfeinde kontrollieren muss, um schwarze Schafe auszusondern und zur Umkehr zum allgemeinen Wohl zu bewegen.

Nur so ist der Bedrohung beizukommen. Ruhe, Ordnung, Sicherheit, diese drei. Die Moral gedeiht dann ganz von selbst. Und die ethischen Grundlagen sind in der Bundesverfassung ja implizit eingebaut. Da braucht uns niemand Ausländischer dreinzureden. Ich als Privatmensch brauche mich nicht weiter um die eigene Sicherheit zu kümmern, das überlasse ich der Polizei. Bei Raufhändeln halte ich mich fern, das sollen Profis in die Hand, bzw. Handschellen, nehmen.

Unser aller Monster gib uns heute

Der Zweck des Staates ist die Freiheit, da hat er schon recht, der Spinoza. Klar müsste ich diese täglich erkämpfen. Aber Freiheit ohne Sicherheit gibt es nun mal nicht. Die Sicherheit, im gated village keinem Bettler und keinem Protestzug begegnen zu müssen? Wer so fragt, ist sicher ein wandelndes Sicherheitsrisiko. Jedenfalls bedroht er unsere verfasste Ruhe und unsere verfasste Ordnung. Er könnte schon bald zum Streik aufrufen, einen Massenaufstand anzetteln.

Wer nicht sichern will, der wird gesichert. Der Fragesteller darf jetzt hinein. Die Gesichtserkennung (made in China) hat ihn akzeptiert. Die Sicherheitskräfte sind in Echtzeit über seine Performance informiert, ihr digitales Gedächtnis erinnert sich und speichert und speichert. Wenn es die Sicherheitsanalyse anfordert, verfolgen sie das Subjekt und machen es per Drohne unschädlich.

Der Glaube an die allgemeine Sicherheit ist eine Ideologie mit Ritualcharakter. Ganz wie in Calvins Prädestinationslehre, wo fleissiger pekuniärer Erfolg die Gottesgunst zu repräsentieren sucht, wird auch hier gesellschaftlicher Reichtum blind (und wirtschaftsfreundlich) in ein zielloses Gewaltmonopol investiert. Dabei zeigt die Erfahrung der Weltkriege, dass die Armeen die Zivilbevölkerung nicht zu schützen imstande sind und keine gerechteren Gesellschaftssysteme schaffen.

Sie sind eine traurige Karikatur einer friedlichen, furchtlosen Weltordnung. Die dafür verschwendeten Ressourcen wären in Friedensforschung und Diplomatie sinnvoller eingebracht. Sicherheit beginnt beim Individuum und lässt sich nicht an den Staat delegieren. Seine Freiheitsrechte nicht wahrzunehmen und Feigheit vor dem Freund, dem Mitbürger zu zeigen, ist ungesund. Denn an der Spitze des Staats ballen sich die individuellen Feigheiten zu einem aggressiven Monster, das undemokratisch um sich schlägt und von Interessengruppen nach Belieben zur Gewalt gegen die eigene Bevölkerung missbraucht werden kann. Wie figura helvetica 1918 zeigt.

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2 Kommentare
  • Profilfoto von Hans Peter Roth
    Hans Peter Roth, 16.11.2018, 16:25 Uhr

    Wortgewaltig und mit tellscher Treffsicherheit trifft der Autor ins Schwarze. Unbedingt lesenswert!

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  • Profilfoto von lulu
    lulu, 16.11.2018, 12:54 Uhr

    Auf den ersten blick recht polemisch formuliert. Aber bei näherem zusehen: Jeder Satz stimmt – leider! Schlimm!

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