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Herr K ist ein Analytiker

Die Formel des Lebens

Herr K auf dem Velo.

Für Herrn K ist das Leben eine mathematische Formel, es geht lediglich darum, genug zu arbeiten, um später ausreichend ruhen zu können. Ganz einfach, oder? Wie Herr K feststellen muss, ist das Leben doch nicht so simpel.

Herr K war nicht immer schon pensioniert, obwohl es von Anfang an absehbar war. Schon mit zwanzig richtete er sein Leben so ein, dass er im Alter einmal gut von seiner Rente leben konnte. Er ergriff einen Beruf mit einer sicheren Pension.

Pension ungleich Ruhestand

Das ist nicht einfach. Wahrlich nicht! Da gibt es ja die verschiedensten Möglichkeiten. Sprechen wir mal von denen, die keine Pension kriegen, obwohl sie das ganze Leben gearbeitet haben, und zwar während 168 Stunden die Woche: Hausfrauen, Mütter, Ehefrauen, Putzfrauen – irgendetwas mit Frau sind sie immer.

Es gibt bezahlte Putzfrauen, Haushälterinnen, Köchinnen, Wäscherinnen, Ammen, Kinderhüterinnen, Näherinnen, Gärtnerinnen, Gesellschafterinnen, gar bezahlte Ehefrauen auf Zeit soll es geben, alles eine Frage des Geldes, aber bezahlte Mütter auf Lebzeiten gibt es nicht.

Leihmütter will ich nicht einmal erwähnen, die ein paar Monate Hormonturbulenzen und Gewichtszunahme in Kauf nehmen gegen gute Bezahlung. Du merkst es schon an der Formulierung, dass da etwas nicht stimmt mit der wahren Liebe. Das ist vielmehr eine Ware Liebe.

Alle Mütter der Welt haben gearbeitet und arbeiten, auch wenn sie keine Pension kriegen.

Herr K ist froh, ein Mann zu sein. Obwohl, ganz unter uns gesagt, hat er auch schon versucht, sich als feminines Wesen zu geben. Frau K, die ihre Beine übereinanderschlägt und die Nägel lackiert.

Den Nagellack brachte er fast nicht mehr weg. Jede Frau weiss, dass man dazu einen in Aceton getränkten Wattebausch benötigt, aber Herr K war keine Frau und trug drei Wochen lang Handschuhe. Das mitten im Sommer!

Herr K als Frau (Bild: kzu)

Dann gibt es auch die Menschen, die einen Beruf ergreifen, bei dem man nicht einfach pensioniert wird, sondern emeritiert. Je mehr Ehre, je weniger Rente, könnte man überspitzt formulieren. Ein Emeritierter benimmt sich auch im Ruhestand kaum anders als zuvor. Den ganzen Tag über liest er philosophische Traktate, macht sich unleserliche Notizen und schreibt gescheite Aufsätze für Fachzeitschriften, während ein pensionierter höchstens Leserbriefe schreibt.

Das würde ein Emeritierter nie tun!

Wobei auch Herr K noch nie einen Leserbrief eingeschickt hat, dazu ist er viel zu vernünftig.

Er grummelt und zetert, jeden Tag fühlt er sich ungerecht behandelt, aber was nützt es ihm, in ebensolchem Medium auszurufen, das ihm Anlass für seinen Ärger gibt!

Da könnte er sich doch gleich beim Satan beschweren, dass der Teufel Hörner trägt!

Nein, Herr K hat seine Wut verinnerlicht und geordnet. Mit seinen 65 Jahren kann er auf eine Lebenserfahrung zurückgreifen wie sonst selten ein 65-Jähriger. Die meisten haben ja keine Ahnung vom wirklichen Leben und verschwenden unnötige Energien, meistens in Form von Emotionen.  Das hat sich Herr K schon lange abgewöhnt. Schon vor dem Kindergarten. Er hätte es schon vor der Spielgruppe getan, wenn es zu seiner Zeit eine solche Einrichtung gegeben hätte.

Die Erwachsenen haben ihn schon als Kind genervt.

Im Kindergarten passierte dann auch der Vorfall, der ihn in seinem Glauben bekräftigte, dass Erwachsene kein Bewusstsein ihrer Kindheit haben können. Sie sind eine fremde humane Rasse, zu der man mutiert, wenn man sich in der Pubertät verpuppt hat und ins Berufsleben geschlüpft ist.

Herr K wurde zu Unrecht zurecht gewiesen.

Das traf ihn bis in sein Innerstes und erschütterte ihn nachhaltig.

Was früher passiert ist, ist nicht vorbei

Das kommt so:

Mit sechs Jahren kommt Herr K in den Kindergarten. Natürlich nennt man den Bub nicht Herrn K – man ruft ihn bei seinem Vornamen, und der lautet «Beat».

Und natürlich versieht man Beat mit dem schweizerischen Suffix – «li».

So wird aus Herrn K der Beatli.

Wie hasst er diese Verniedlichung! Er wehrt sich gegen diese Verkleinerung.

Bald sagt man:

Wo hat dieser Junge nur die vielen Fremdwörter her?!

Was, er kann schon auf hundert zählen? Und lesen tut er auch schon?!

So ein kluger und ernsthafter Junge. Der Bub kann schon Wurzeln ziehen und kommt erst in die dritte Klasse.

Man kann ihn unmöglich Beatli nennen, ohne sich lächerlich zu machen.

Doch ich will nicht vorgreifen und euch vom Vorfall erzählen, der Beatli aus der Bahn wirft.

Anfänglich findet Herr K – ich will ihn bewusst nicht Beatli nennen, denn das würde ihn verletzen – den Kindergarten grossartig. Zuhause ist es ihm nur langweilig, die Spiele mit seinen Schwestern kommen kaum über ein Bäbi-Niveau hinaus.

Der Bäbiegge war Herrn K zu langweilig. (Bild: kzu)

Hier spielt er mit gleichaltrigen Kindern Fangis und geniesst bald den Ruf des Unfassbaren. Er entwischt durch die stachligsten Gestrüppe, kann den Handstand, trifft beim Fussball das Tor, ein wahrer Wildfang, dieser Herr K.

Sein Unglück beginnt nach den Herbstferien, als es kalt und neblig wird und Indoor-Kindergarten angesagt ist. Die gleiche Langeweile wie zu Hause droht ihn zu erdrücken.

Eines Morgens veranstalten der Kurtli, der Fähri-Peti und der Marcel mit den gelben Turnschuhen und er mit der Briobahn ein Wettrennen um den Tisch.

Jeder geht an eine Ecke auf Startposition, in der rechten Hand ein Briobahnwägeli, und auf Kommando rennen sie im Uhrzeigersinn los, das Fahrzeug auf die Schienen gepresst.

Das ist lustig!

Sie sind etwa gleich schnell, die vier Jungs; gar nicht so einfach, das Wägeli auf der Schiene zu behalten und die Finken an den Füssen.

Herr K schlägt vor, linksum zu rennen.

Ein Gejohle und Gerenne – Herr K bekundet keine Mühe, das Wägeli auch in der linken Hand nicht entgleisen zu lassen, doch der Fähri-Peti saust mit Getöse in die «Bäbiegge», und Frl. B, die junge Kindergärtnerin, mahnt laut: «Nicht so schnell, Beatli!»

Drei Stiche

Das sticht ihm gleich dreimal mitten in sein Herz, dem Herrn K.

Der erste Stich ist für das «Beatli». Kein Stich-li, sondern ein li-Stich.

Der zweite Stich geschieht durch den Ruf seines Namens, ist es doch der Fähri-Peti, der in den «Bäbiegge» gekracht ist. Aber nicht er wurde laut aufgerufen, auch nicht der Kurtli oder der Marcel mit den gelben Turnschuhen.

Der finale dritte Stich, der sein Herz lähmt, ist das Wort «schnell».

Ein «Nicht so LAUT!» hätte er ja noch akzeptieren können, auch wenn er sicher nicht der Lauteste der vier Buben war. Aber Frl. B rief scharf: «Nicht so schnell!»

Warum soll er nicht schnell sein dürfen? Was ist so schlecht daran, schnell zu sein?

Das wird Herr K erst viel später begreifen.

Es ist nicht lustig, wenn man alle überholt hat. Überhaupt braucht es im Leben schon etwas Zärtlichkeit, um bestehen zu können. Da hat es Herr K nicht so einfach gehabt.

Staunend nimmt er als Erwachsener zur Kenntnis, dass viele Mütter die ersten Zeichnungen ihrer Sprösslinge mit Magneten am Kühlschrank festmachen. Monsterhafte Kopffüssler. Und je nach Geschlecht des jungen Künstlers auch Prinzessinnen oder Panzer.

Bei Herrn K zu Hause hängen nur zusammengesetzte Puzzles hinter Glas an den Wänden des Wohnzimmers.

Ein Hobby seiner Mutter ist es, Tausende von Teilchen zu einem Bild zusammenzusetzen, und so macht sie es auch mit Herrn K. Fehlt nur noch, dass auch er an einer Wand hängt!

Die Ränder setzt die Mutter immer zuerst zusammen und sein Rahmen war gefestigt, bevor er zu krabbeln begann. Nur beim Haufen in der Mitte, der noch übriggeblieben ist, da herrscht Chaos. Der muss immer wieder neu geordnet werden, damit er in diesen starren Rahmen passt und ein Bild entsteht.

Ordnung ins Chaos

Deshalb erlebt Herr K die Pubertät als äusserst störende Anhäufung von wilden Ideen und Gefühlen, die seinen Rahmen sprengen und ihn von seinen vorgefassten Plänen abbringen will.

Herr K ist ein analytischer Mann und unerschrockener Mathematiker, wenn es darum geht, mathematische Formeln zu entwickeln, die zu seinen Vorstellungen passen.

So rechnet Herr K:

wachsen – arbeiten – altern

Herr K will mit 23 Jahren ins Berufsleben einsteigen, mit Unterbrüchen 40 Jahre lang arbeiten. So bleiben ihm nach seiner ordentlichen Pension 35 Jahre, um an der Sonne zu liegen und die Beine hochzulagern.

Die ersten 23 Jahre seines Lebens entscheiden darüber, wie er seine restlichen Jahre verbringen wird. Je früher man mit planen beginnt, desto erfolgreicher wird man sein. Es geht im Leben nur darum, den Anteil an Arbeitszeit und Ruhezeit in Balance zu halten.

Ja, so einfach ist das Leben, beschliesst Herr K.

Aber er muss immer wieder erfahren, dass dem nicht so ist.

Licht = Klarheit

Herr K sitzt in der Küche um sechs Uhr morgens und das Deckenlicht verbreitet eine beruhigende Helligkeit.

Sein Puzzle ist zusammengesetzt, seine Eltern gestorben. Vom Vater hat er einen hellbraunen Ford Escort geerbt, den er jede Woche ausfährt, damit er keine Standschäden erleidet. Obwohl er eigentlich überzeugter Zugfahrer ist und weder mit der Automarke noch dessen Farbe etwas anfangen kann. Aber geerbt ist geerbt. So kutschiert er jeden Sonntag zwei Stunden herum und denkt an seinen Vater.

Der Tod seiner Mutter hat einen unerklärlichen Weinkrampf bei ihm ausgelöst, den er nur mit grösster Mühe in den Griff bekommt. Von ihr erbte er alle gerahmten Puzzles, die er in der Garage neben dem braunen Auto aufbewahrt.

Er denkt nicht mehr an seine Mutter. Jedenfalls nicht mehr absichtlich.

Herr K liebt den Tag und hasst die Nacht.

Am meisten verabscheut er die Träume, die ihn regelmässig heimsuchen.

Konturen. (Bild: kzu)

Er schläft im Bett, der Wind frischt auf und wühlt in seinen Gedanken alles durcheinander. Ein nächtliches Gewitter hat eingesetzt und erschrocken öffnet er die Augen. Allmählich erkennt er die Konturen vom Fenster, der Vorhang, der sich bewegt.

Er zieht die Decke bis ans Kinn, und aus der Dunkelheit tauchen die Möbel seiner Kindheit auf, sein Sekretär, der ihm als Schreibtisch dient, sein Holzstuhl, auf dem er knien muss, um über die Tischplatte sehen zu können und auf dem seine Kleider liegen, das Gestell mit den Büchern, und plötzlich kommt Bewegung in dieses Stillleben, nur der wallende Vorhang bleibt bockstill in der Luft hängen. Das Fenster verzieht sich, Quadrate, Rechtecke, Rauten, es rast auf ihn zu, die Wände bewegen sich und er hat keinen Raum mehr, um zu atmen.

Die ganze Nacht hört er die Kirchturmuhr schlagen und kann erst wieder einschlafen, als er den fünften Glockenschlag hört.

Ja, Herr K hat eine ganz spezielle Beziehung zu Uhren, aber davon erfährt Ihr im nächsten Blog.

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5 Kommentare
  • Profilfoto von Katja Zuniga
    Katja Zuniga, 22.09.2020, 11:25 Uhr

    Lieber Hanspeter
    Gerne wandert Herr K mit einer empathischen Person, wie du eine bist, durch die Herbstwälder, am liebsten bis über Grenzen, sei es geografisch gemeint oder spirituell.
    Herzlich
    Katja

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  • Profilfoto von Hanspeter Mühlethaler
    Hanspeter Mühlethaler, 21.09.2020, 10:46 Uhr

    Lieber Herr K
    Ich wünsche Ihnen, dass Ihr Leben beim Betrachten der schönen BIlder – die ja dierekt Sie betreffen – etwas mehr Farbe und neue Schattierungen erhält. Und dass Sie Ihr Trauma, das Sie vor zig Jahren durch eine achtlose Ermahnung Ihrer Kindergärtnerin erlitten haben bald überwinden können. Ich würde Ihnen gerne eine Stunde empathischen Zuhörens anbieten.
    Mit freundlichen Grüssen

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  • Profilfoto von Gerd-Peter Leube
    Gerd-Peter Leube, 16.09.2020, 19:29 Uhr

    Bei der Suche nach «Der Formel des Lebens» bin ich hier bei ihnen gelandet, doch meine Suche ist die nach einer mathematischen Form.
    Sie gibt es nach meinen Untersuchungen, ist aber «schwierig weil einfach».
    Trotzdem hat mich Herr K. amüsiert.
    GPL

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    • Profilfoto von K
      K, 18.09.2020, 09:36 Uhr

      Diese wirkliche Formel interessiert mich sehr. Herr K hat in seinem Leben so manches zurechtgebogen, was ihn „störte“.
      Danke für das Echo!

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    • Profilfoto von Gerd-Peter Leube
      Gerd-Peter Leube, 18.10.2020, 11:10 Uhr

      Nachtrag:
      Die Formel des Lebens lautet a : b = b : c.
      Eine ihrer Umformungen ist a = c mal y^2.
      Sie ist das Gegenteil von E = m mal c^2 , der Formel des Todes.

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