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Wie sich eine Freundschaft entwickelte

Die Fliege

Fliegen sind interessante Geschöpfe. (Bild: pexels)

Vergangenen März – wir erinnern uns vielleicht noch! –, wurde es nach ein paar frühlingshaften Tagen auf einmal winterlich. Meine Terrasse war wieder vollkommen verschneit, die Berge erstarrten im Schnee und für ein paar Tage blieb es frostig. Da entwickelte sich eine Freundschaft zu einer Stubenfliege.

Eine Fliege hatte ohne mein Wissen bei mir überwintert, so meine Vermutung, und als sie erwachte und sah und fühlte, wie ungemütlich es nach den freundlichen ersten Sonnengrüssen draussen wieder geworden war, wagte sie sich nicht ins Freie. Da sie aber nicht mehr einschlafen konnte, kam sie auf die nicht ungefährliche Idee, bei mir auf bessere Tage zu warten. Zur Begrüssung begann sie, mich zu umschwirren.

Warum soll ich sie bedrohen?

Mein erster Impuls war es, sie mit der Hand davonzujagen, was ich dann aber unterliess, denn der zweite Impuls war: Was hat sie mir getan? Sie ist eine interessante kleine Stubenfliege und hat sich in diesem Frühjahr vermutlich noch nicht auf Kuhmist und anderem Unappetitlichen niedergelassen und verköstigt. Warum soll ich ihr den Frühling, kaum hat er für sie begonnen, schon zunichte machen, indem ich sie bedrohe?

Wissen Sie, wie lange eine Fliege überhaupt lebt? Vorausgesetzt, sie wird nicht gefressen oder zerquetscht oder es reisst ihr kein gedankenloses Kind Beine und Flügel aus. Die Männchen haben ein kurzes Leben, das habe ich recherchiert. Gerade mal 26 Tage. Die Weibchen geniessen es etwas länger. Auf Wikipedia ist man sich allerdings über die Dauer nicht einig. Es kann bis zu siebzig Tage dauern. Und in dieser Zeit kümmert sich die weibliche Fliege unerhört fleissig um die Eiablage.

Bis zu 400 Stück schafft sie in Abständen von drei bis vier Tagen. In Ställen, wo es für ihre Begriffe herrlich duftet und wo für die Ernährung der später schlüpfenden Larven genug Dung herumliegt (sei es von Pferd, Schwein, Kuh und andern Paarhufern, von Vögeln oder Nagetieren) und wo auch die Temperatur ihr bekömmlich ist, kann es in einem Sommer bis zu fünfzehn Generationen geben.

Die Eier lässt sie liegen

Um die Eier kümmert sie sich nicht. Nach mehreren Stunden schlüpfen die Maden und warten weitere Tage ziemlich hilflos auf ihre Verpuppung. Immerhin können sie jetzt schon ein wenig essen, sie haben kleine Mundhaken, um sich an ihrer Umgebung gütlich zu tun. Andererseits werden sie auch selber gefressen. Wir sehen sie und ekeln uns, und dabei vergessen wir meistens, dass sie eine wichtige Aufgabe erfüllen, denn sie räumen das weg, was uns anwidert. Unsere Welt wäre voller Unrat und Gestank, würden die Insekten und insbesondere deren Maden nicht ständig aufräumen. Sie wandeln Mist in Eiweiss und Fett um und dienen dann unter Umständen Hühnern, Fischen und Schweinen als Nahrung. Ausserdem bilden sie eine begehrte Speise für Vögel und andere Kleintiere. 

«Wow, ich kann fliegen!»

Sollten sie aber davonkommen, geht es schon bald an die Häutung und am Ende, wenn die Maden diese zweimal überstanden haben, veruppen sie sich und schlüpfen schliesslich aus ihrer Hülle. Sie sind jetzt fixfertige Fliegen mit zarten, fein geäderten Flügeln. Ich stelle mir vor, was es mit ihnen tut, sobald sie merken: «Wow, ich kann fliegen!» Die Pubertät dauert, wie alles bei den Fliegen, nur kurz, und sofern es gut läuft, können sie sich nach drei Tagen bereits mit einem Partner zusammentun.

Ob meine Fliege weiblich war und Eier legen konnte, weiss ich nicht. Jedenfalls war sie sehr sauber, hat sich immer wieder niedlich die Vorderbeinchen geputzt. Einmal, als ich gerade zwei Orangen ausgepresst hatte, sass sie wieder in meiner Nähe auf dem Tisch und rieb und säuberte ihre Vorderfüsse. Wobei ich nicht sicher bin, ob es sich um eine Säuberung oder um ein anderes Ritual handelt. Versuchshalber legte ich ihr ein kleines Stück Orangenfruchtfleisch hin und wartete. Zunächst keine Reaktion. Als ich aufstand, um mein Geschirr abzuräumen, flog sie auf, drehte zwei Runden und näherte sich dabei dem Leckerbissen. Sie landete in der unmittelbaren Umgebung des orangen Klümpchens, beinelte darauf zu und tippte schliesslich mit ihrem Rüsselchen lange an dem Tupfer Fruchtfleisch herum.

Wissen Sie, ob Fliegen und andere Insekten sich jemals setzen? Ob sie Zähne haben und wie viele?

Wikipedia orientierte mich, dass Insekten keine Zähne haben und dass Fliegen daher eine Flüssigkeit auf ihr Essen erbrechen, damit es weich wird, bevor sie es aufsaugen können. Und in der Tat, ich beobachtete das schwarze kleine Flügelwesen, wie es meine Küchenablage mit seinem Rüsselchen vorsichtig abtastete, und fragte mich, was es hier nur finde. Aber Fliegen besitzen einen ausgeprägten Geruchssinn an den Füssen, und die Augen mit ihren Facetten können gleichzeitig in alle Richtungen blicken. Ich erinnere mich, wir haben das schon in der Schule gelernt. Meine Fliege konnte viel mehr und viel genauer sehen und riechen als ich. Ich kann beispielsweise nicht beobachten, was hinter mir ist oder was sich über mir tut, ohne mich zu verrenken. Sie aber hat den Überblick, startet bolzengerade in die Luft und saust los. Dabei ist sie so schnell und sieht dabei ihre Umgebung so genau, dass sie ihren Feinden fast immer entkommt.

Vor Jahren las ich, wer eine Fliege treffen wolle, solle sie von hinten angreifen, da sie meist instinktiv rückwärts starte, wenn sie flüchten müsse.

Neulich setzte sie sich auf mein Smartphone, als ich gerade am Lesen war und es daher senkrecht hielt. Sie dachte, sie könne da herumlaufen, könne auch abwärts laufen, wie auf allen Wänden und Scheiben und selbst auf Spiegeln. Aber nein, sie rutschte kopfvoran hinunter. Sie versuchte es ein paar Mal, dann gab sie es auf und erlag wiederum dem Drang, ihre Vorderbeine aneinanderzureiben. Ihr liebster Genuss, wie es scheint.

Sie blieb drinnen

Bemerkenswert ist, dass ich regelmässig lüftete, ohne dass sie rausflog. Sie blieb drinnen. Setzte ich mich zu Tisch oder in einen Sessel, kam sie angeflogen, begrüsste mich, indem sie eine oder zwei Runden flog und liess sich in der Nähe nieder. Weil dort, so rechnete sie es sich wohl aus, wo dieses merkwürdige Biest ohne Flügelpaar und mit nur zwei Beinen herumlümmelt, ihr bestimmt irgendwann etwas vor den Rüssel gibt.

Einmal sass ich mit meiner Freundin am Tisch. Ich servierte dem Gast Tee, aber meine Fliege liess ihr keine Ruhe, attackierte und ärgerte sie. Als wolle sie ihr zu verstehen geben, dass ausser ihr und mir hier niemand etwas zu suchen hätte.

Bald darauf kam der Frühling wieder ins Land und meine Fliege machte sich durchs weit geöffnete Fenster auf und davon.

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