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Thomas Brändle

Die Eisverkäuferin von Amalfi

Franz ist auf der Suche nach seiner Eisverkäuferin.

(Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder war der damals neunjährige Franz das erste Mal ans Meer ins italienische Amalfi gefahren. Sie stand dort fast jeden Tag am Eiswagen unter dem Sonnenschirm und schöpfte italienische Gelati in knusprige Waffelbecher. Sogar an der eigenen Hochzeit hatte Franz an sie gedacht. Bei der Scheidung auch. Am Sonntag wird er 50 Jahre alt. Die Koffer für die Reise in den Süden sind gepackt.

Das erste Mal erwähnt wird Speiseeis in den Reiseberichten von Marco Polo, aber schon 3000 Jahre vor Christi Geburt sollen die Chinesen Schnee aus dem Himalaya mit Mandeln, Milch und Aromen zerstossen haben. Die Chinesen. Immer diese Chinesen. Alles, worauf wir so stolz sind, hatten die Chinesen schon lange vorher erfunden. Europa ist ein einziges Plagiat.

Franz Rickenbacher zählt die mittlerweile achte Autobahnzahlstelle seit Rom. Es werden jedes Jahr mehr, ist er sich sicher. Im roten Cabrio auf der Bahn neben ihm sitzt eine braun gebrannte Brunette, in ihren Haaren steckt eine glitzernde Designer-Sonnenbrille mit grossen blauen Gläsern. Tiziano Ferro brüllt aus dem Radio des Alfa Romeos mit den beigen Ledersitzen eine markige Liebesballade.

Franz Rickenbachers schönste Kindheitserinnerung, die Eisverkäuferin von Amalfi, hatte meistens dunkelblonde Haare und betörende, azurblaue Augen. Die erste, quasi das Original, hiess Anita, die zweite Chiara, die nächste Carla, die vierte Laura, es gab eine Gina und natürlich mindestens drei Marias. Das Eismädchen von Amalfi war jedes Jahr gleich jung und gleich schön. Nur Franz wurde älter. Aber seine Erinnerungen an Anita blieben frisch, ein Leben lang.

Aromatisierter Schnee aus den Alpen

Der griechische Arzt der Antike Hippokrates von Kos hatte ebenfalls viel übrig für die wohltuende, kühlende Köstlichkeit – allerdings im Zusammenhang mit Kreislaufproblemen. Dabei handelte es sich wohl um Schnee oder Eis, gemischt mit Fruchtsäften.

Franz bereitete sich vor jedem Urlaub in Amalfi akribisch vor, um Anita, die wunderschöne Eisverkäuferin, mit Interessantem über Gelati zu beeindrucken. Manches wusste er gar auf Italienisch vorzutragen. Sie hing dann zwar an seinen Lippen, geküsst hat sie sie hingegen nie.

Für die römische Oberschicht gehörte es zum guten Ton, aromatisierten Schnee aus den Alpen zu löffeln, erzählte er ihr. Und eigentlich seien die Speiseeismaschinen die Vorgänger der Schneekanonen, oder umgekehrt. Er verstieg sich in die abenteuerlichsten Behauptungen, nur um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Wie der Schnee ins Hunderte Kilometer entfernte Rom gebracht wurde, war ihm allerdings nie klar geworden, auch nicht mit viel Fantasie. Angeblich seien dafür Stafettenreiter eingesetzt worden. Auf solchen Transporten dürfte dann wohl auch beiläufig das Frappé erfunden worden sein.

Die Brunette zeigt dem Autobahnvogt den Vogel und drückt aufs Gaspedal ihres schnittigen Sportwagens. Franz sieht den Beschimpften an. Der zuckt belustigt mit den Achseln, als hätte sie ihm nur ein Kompliment gemacht, ein italienisches wahrscheinlich.

Die Mafia und die Eisdielenbetreiber

Trotz allem erheben die Italiener den Anspruch, die Erfinder der Gelati zu sein. 1530 kam nämlich ein sizilianischer Zuckerbäcker auf die Idee, Schnee und Eis nicht als Zutat, sondern als Kältemittel zu verwenden. Seither fordert die sizilianische Mafia bei Eisdielenbetreibern keine Schutzgelder, sondern lediglich Lizenzgebühren ein. Die Medien würden das alles nur furchtbar aufbauschen, behauptet Franz Rickenbacher bis heute.

Als Katharina de Medici von Florenz 1533 zur Vermählung mit dem französischen Thronfolger den begabten Eiskreateur mit dem sinnigen Namen Bontalenti nach Paris brachte, begann der Aufstieg der italienischen Gelati in ganz Europa. Und 1676 schlossen sich erstmals 250 Pariser Glaciers zu einer Zunft zusammen. Daraus entstanden dann auch bald die ersten Eisbecherkreationen und Parfait Glace. In Wien das berühmte Eiskaffee, in Italien die Cassata.

Gotthardtunnel durch italienische Gelati finanziert

Nach 1870 wird von Gelatieri berichtet, die über die Alpen kommend an helvetischen Jahrmärkten Speiseeis verkauften. Ohne die Einfuhrzölle auf italienischer Gelati wäre der Gotthardtunnel nicht zu finanzieren gewesen, lautete eine von Franz’ kühnen Thesen zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr. Dass der berühmte Koch Escoffier an der Weltausstellung 1889 zu Ehren der australischen Nachtigall Nelly Melba den Coupe Peche Melba erfand, belegte er Anita, Chiara oder Maria aber dann wieder schwarz auf weiss.

Die Monate zwischen den Sommerferien in Amalfi waren für den jungen Franz nur zu ertragen, indem er beinahe täglich ein Eis ass, auch im Winter. Neben Anita aus Amalfi hatte in Franz Rickenbachers Leben lange keine zweite Frau Platz. Erst die Vreni aus dem Obergoms holte ihn aus seinen Tagträumen, indem sie ihm mitteilte, dass sie von ihm ein Kind erwarte, genau genommen Zwillinge. Die Ehe blieb unglücklich. Daran änderte sich auch nichts, als sie regelmässig und gemeinsam in die Sommerferien nach Amalfi fuhren. Der Zauber von damals war verflogen. Auch Anitas Eisstand existierte längst nicht mehr.

Die Suche nach Anita

Kurz vor Neapel verlässt Franz die Autostrada, um sich vom Tohuwabohu der süditalienischen Metropole vereinnahmen zu lassen. Ob er Anita wieder finden wird? Wird sie sich an den professoralen Pubertierenden mit dem riesigen Lexikonwissen über Gelati erinnern können?

Franz Rickenbacher weiss, wie verrückt sein Plan ist, aber der Moos Hans aus der Buchhaltung hat sich auch lange Haare wachsen lassen und fährt nun mit der Harley von Chicago nach Los Angeles. Dem wiederkehrenden Quartalsabschluss seines Arbeitgebers hatte er nach all den gemeinsamen Jahren einfach den Laufpass gegeben, ohne sich zu erklären. Die Läupi Motoren und Maschinen AG ohne Moos, das war genauso unvorstellbar.

«Erst die Amerikaner machten aus der Glace ein eigentliches Lebensmittel.»

30 Liter Glace pro Jahr

Apropos Amerika: Erst die Amis machten aus der noblen Erfrischung ein eigentliches Lebensmittel. 30 Liter verputzen sie jährlich. Die Italiener nicht mal die Hälfte. Die Glacemaschine erfand denn auch eine amerikanische Hausfrau: Nancy Johnson. Per Handkurbelbetrieb mischte sie einen mit flüssigen Zutaten gefüllten Behälter in einem mit Roheis und Salz beschickten Bottich.

Die erste Glacefabrik eröffnete Jacob Fussel 1851 in Baltimore und der deutsche Chemiker Carl von Linde entwickelte 1876 die erste Kompressionskühlmaschine, in der sich Ammoniakgas verflüssigt und beim Entspannen die Umgebung abkühlt. Noch heute basieren die Kühlmaschinen auf diesem System.

Berlusconi solle Papst werden

Franz Rickenbacher ist ein passionierter Eisexperte, zweifellos. Begehrenswerte Frauen treiben Männer eben zu Höchstleistungen an. In diesem Bewusstsein setzt sich Franz unten an der Mole, wo die Ausflugsschiffe nach Capri und Ischia vor Anker liegen, in eine Gelateria. Ein kleinwüchsiger Neapolitaner mit dem Hemd über der Hose und einem zerknitterten Borsalino auf dem Kopf erklärt den Zuhörenden wild gestikulierend, weshalb Berlusconi der richtige Mann für den Job des nächsten Papstes wäre. Ministerpräsident sei keine Herausforderung mehr für ihn.

Wehmütig sieht Franz Rickenbacher in die Auslage der Eistheke. Wasser, Milch, Rahm, Zucker, Milchtrockenbestandteile, Fett und Eier, Gelatine, Alginate oder Stärke, Fruchtmark, Schokolade, Nüsse, Pasten, Kaffeepulver, Spirituosen und ganze Früchte, das sind die Zutaten seiner lebenslangen Sehnsüchte. Und Anita die krönende Kirsche darauf.

Ein schlanker, fast drahtiger Italiener bestellt eine Copa con Fresa, Vanilla e Stracciatella, dazu geröstete Pistazien. Franz kullert eine Träne über die Wange. Genau dieselbe Kombination hatte er favorisiert. Trotzdem hatte er bei Anita ab und zu auch andere Arrangements verlangt, um vor ihr nicht als spiessiger Langweiler dazustehen.

Männermangel und süsse Naschereien

Während die sogenannten Eisdielen mit exotischen Namen wie «Gelateria Venezia», «Gelati Giuseppe» oder «Eiscafé Portofino» in der Schweiz eher die Ausnahme sind, haben sie in Deutschland eine wichtige Funktion und entsprechend grössere Verbreitung gefunden. Frauen, Männer und Gelati sind im Deutschland der Nachkriegszeit nicht wegzudenken.

«Der Männermangel hat inzwischen nachgelassen, die Tradition ist geblieben.»

Männermangel und süsse Naschereien lockten die deutschen Frauen in die zahlreichen und neu eröffneten Eisdielen, wo bereits die feurigen und lebensfrohen Italiener auf sie warteten. Der Männermangel hat inzwischen nachgelassen, die Tradition ist geblieben.

Am späteren Nachmittag erreicht Franz Rickenbacher das verträumte Küstenstädtchen Amalfi. Die Sonne strahlt in die Altstadt, wo verliebte Pärchen, kinderreiche Familien und Zigarren rauchende Alte flanieren, Bistros bevölkern und sich gemeinsam über die lauten Vespas ärgern, auf denen junge Männer mit nacktem Oberkörper und Helm durch die kopfsteingepflasterten Gassen brettern.

«Confitteria-Gelateria Vittorio» liest Rickenbacher über einem Eingang, vor dem kleine, runde Tischchen mit filigran anmutenden Stühlen stehen. Da setzt er sich hin, bestellt einen Ristretto und freut sich, endlich wieder in Amalfi zu sein.

«Anita & Francescos»

Als es langsam eindunkelt, geht er runter zum Hafen, wo auch der ihm bestens vertraute Strand beginnt. Etwas weiter oben hat er damals gestanden, Anitas Eiswagen mit dem riesigen, bunten Sonnenschirm. Lang ist’s her. Rickenbacher setzt sich auf die Brüstung des Geländers, lässt die Beine baumeln und sieht pfeifend aufs glatte Meer hinaus. Die Sonne steht knapp über dem Horizont, wie eine riesige Kugel Vanilleeis, die bald in eine leckere Sauce plumpst.

Als sie sich längst darin aufgelöst hat, spricht Franz die attraktive Frau an, die vor einer halben Stunde auf dem einsamen Liegestuhl im Sandstrand vor ihm Platz genommen hat. Sie sei Eisverkäuferin in Amalfi, geschieden, zwei erwachsene Kinder. Anita heisst sie zwar nicht, was Rickenbacher nicht weiter stört. Sie ist Eisverkäuferin.

Zwei Jahre später heisst Vittorias Gelateria «Anita & Francescos», finanziert mit Franz Rickenbachers ausgelöster Pensionskasse.

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