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Mit dem Drahtesel durch die Stadt

Der moderne Mann und sein Velo – eine Liebesgeschichte?

Ein Mann und sein Velo

(Bild: Thomas Gamstaetter)

Stundenlang nach einem Parkplatz suchen? Nein, danke. Literatur-Blogger Adrian Hürlimann steigt lieber aufs Velo. In seinem Beitrag erzählt er, was ihn da auf dem Weg von A nach B so alles erwartet.

Wenn ich jeweils kühn bei Grün den benachbarten Streifen quere und Richtung Trottoir und Platz abbiege, zum Erstaunen der hinter mir katzbuckelnden Kolonnenfahrer, die geraden Tunnelblickes ihrem Fernziel zusteuern, das bilde ich mir jedenfalls trotzig ein, so lege ich mir in Gedanken die immergleiche Ausrede zurecht, die ich anbringen würde, wenn mich ein grimmig-vorwurfsvoller Polizist anhalten sollte. Das ist mir bis anhin noch nie passiert, könnte mir aber, so die Erzählungen befreundeter Radfahrer, jederzeit zustossen.

«Seit sechzig Jahren fahre ich hier durch», würde ich dann sagen, gelassen und einigermassen freundlich dreinblickend. Und vielleicht anfügen: «Da waren Sie wohl noch hinter dem Mond!» Schliesslich gibt es ein sogenanntes Gewohnheitsrecht, und die Verhältnismässigkeit – ich hatte noch nie einen Unfall, von harmlosen Selbstunfällen mal abgesehen – sollte in meinem Fall wohl ebenso und ganz besonders zum Zuge kommen.

Ich fahre viel Auto, aber in der Innenstadt ist mir die Wahrscheinlichkeit von Parkbussen viel zu hoch, besonders deshalb, weil ich nie Geld in den Automaten stecke. Den Hügel hinab geht es zu Rad eh viel schneller, und auf Fusswegen ist die Gefahr, von eifersüchtigen Blechkarossen an den Rand gedrückt zu werden, viel kleiner. Als Halbwüchsiger habe ich gelernt, auf alle unerwarteten Arten «uf d’Schnöre z’gheie», und das scheint mir das Wichtigste, entscheidender zum Beispiel als ein Helm.

Damals und heute

Die Strassen in meinem Quartier waren damals, in den Sechzigern, ungeteerte Kieswege, übersät mit Kuhlen, die von Regenpfützen herrührten. Bremsen hatte immer mit Bremsbereitschaft zu geschehen, sprich: auf der Stange sitzend, die Beine knapp über dem Boden haltend das Schlittern und Schlingern des Hinterrades infolge Vollbremsung unter Kontrolle zu bringen. Schleuderkurse nicht nur für fahrbare Untersätze, sondern auch für Zweiräder wären die besten Garanten für die Unfallverhütung, am besten im Kindesalter, denke ich seither, da die Strassen besser, die Beläge griffiger geworden sind, der Verkehr aber zugenommen hat.

A propos Verkehr: Die einschlägig gekennzeichneten, mit knalligem Sportdress sich modisch dünkenden Gelegenheitssportler auf Zweirädern mit ihrem Imponiergehabe und dem Drang, mich unbedingt abhängen zu müssen, gehen mir eher auf die Nerven, als dass sie mir den Halt gruppengestärkter Solidarität und Selbstbehauptungswillen im Langsamverkehr im Kampf gegen stalldrängige Hobbypiloten und Familienpanzer böten. Da sind mir die Schwärme elegant dahinrauschender Zivilistinnen auf Berlins Strassen, Chausseen und grosszügigen Gehsteigen viel lieber. Schnellfahrer halten sich dort im Zaum, wenn sie die im Vergleich zu hierzulande ungleich zahlreicheren Normalverbraucher hinter sich lassen.

Drängeln und mit Coolness Überlegenheit markieren ist dort unüblich (das gilt übrigens auch für den motorisierten Verkehr), der tägliche Gebrauch des gesünderen, unerhört individualistischen Fortbewegungsmittels viel zu weit verbreitet, alltäglich und selbstverständlich, als dass Emotionen punkto Nutzung öffentlicher Einrichtungen hochkommen könnten. Das gilt immer auch für Wetterbedingungen und Temperaturen, bei denen sich hierzulande die Sportlerfraktion kaum je an die unwirtliche Luft bequemt. Ich habe elegant, kaum winterlich gekleidete Frauen einhändig über vereiste Strassen radeln gesehen, ohne auch nur die Gänge herunterzuschalten.

Die Liebe zum Velo leidet unter Velopolitik

Davon bin selbst ich, der lebenslang aktive Alltagsverkehrsteilnehmer, weit entfernt. Die Diskussionen um den angeblich nötigen Ausbau der Radwege, die Einrichtung zentraler Velounterstände, die allgemeine Apartheid im Strassenverkehr und ähnliche demokratische Mängellisten finde ich eher langweilig. Die ganze Velopolitik scheint mir kaum geeignet, die Beliebtheit des Zweirads zu fördern. Ich komme überall recht gut zurecht, lasse den Fussgängern immer den Vortritt, erzwinge keine freie Durchfahrt vor Fussgängerstreifen und verhalte mich überhaupt angepasst, konform und diskret.

Wenn sich allerdings die Karossen, besetzt meist mit derselben Personenzahl wie meine Wenigkeit, stauen und einander auf die Nerven gehen, zögere ich nicht, sie rechts zu überholen – nicht demonstrativ, aber bestimmt – und mich vor sie hinzupflanzen, wie es mir meiner und der Stadtplaner Ansicht nach zusteht. Innerhalb der Skala der Verhaltenstypen im Langsamverkehr sehe ich mich sowohl der angepassten, defensiven Fraktion zugehörig als auch der aggressiven, selbstsicheren Gruppe. Je nach Situation weiche ich auf Trottoirs aus, steige ich ab, wenn mir der Ausweg verrammelt vorkommt, und am Ziel postiere (nicht: parkiere) ich mein bejahrtes Occasionsmodell vor dem Gebäude oder in geeigneter unmittelbarer Umgebung zu diesem.

Velofahren ist praktisch. Der Suchverkehr nach teurer, temporärer Entsorgung, die beulenträchtigen Einfädelungen in stinkende, dunkle Massengruften, das alles entfällt. Das kostspielige, von Leerlauf und Beschäftigungstherapie geprägte Fitnesscenter natürlich auch. Das alles hat schon einen Hauch des Spaziergangs, den Robert Walser kultiviert und zu Papier gebracht hat. Für Spaziergänger gibt es heute Kurse, welche die Möglichkeiten musisch und mussisch Interessierter erweitern sollen. Fürs Velofahren, diesen schnöden, armengenössigen und bestenfalls Minderjährigen zumutbaren Notbehelf, gibt es nichts dergleichen.

Auf neuen Wegen

Dabei ist Velofahren praktisch und trägt erst noch zur Bildung bei. Manchmal auch zum psychischen Gleichgewicht. Besonders dann, wenn es aus gewohnten, verleideten Gefilden mal hinaus geht auf tagelange Erforschung unbekannter Gegenden. Man sieht mehr im Weichbild der Städte, hat einen umfassenderen, weil langsamer gefühlten Eindruck der Landschaft. Dass Politiker ihre Vorbildlichkeit mittels zur Schau getragenen Velofahrens zu demonstrieren pflegen, nehmen wir in Kauf.

Und dass viele junge Frauen die Vorzüge des Velosattels schon sozusagen handgreiflich erfahren haben, lass ich hier mal beiseite, will ich doch keine Gemeinplätze ausbreiten, sondern ausschliesslich von persönlichen Erfahrungen berichten. Und die sind, besonders bei unerwarteten Landungen auf der Herrenvelostange, ganz anders ausgefallen.

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