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Falsche Perspektive und fehlende Tiefe?

Das Zimmer der schlafenden Signora

«Intérieur à Collioure»; Henri Matisse, 1905. (Bild: Wikiart)

Ein heisser Sommertag. Einzig die Gewölbe der alten Häuser von Collioure gewähren noch etwas Kühle.

Eine Frau im grünen Kleid liegt ausgebreitet auf einem Bett. Von der Hitze entkräftet, scheint sie sich, kaum hatte sie das Zimmer betreten, noch den Sommerhut vom Haar genommen, sich aus ihrem roten Kleid geschält, es auf den nächsten Stuhl geworfen zu haben und den breitrandigen Hut obendrauf. Ihre weissen Schlarpen schleuderte sie achtlos von den Füssen auf den roten Teppich. Dort, vor dem Bett, bilden sie zwei helle Flecken, nutzlos bis zum nächsten Auftritt. Jetzt schweift der Blick durch das Zimmer, ein farbiges Intérieur, streift das Bett, huscht aus dem weit offenen Fenster in die Helligkeit eines Mittags im Hochsommer, über die breite Terrasse, die Bucht dahinter, erfasst die fernen Hügel, um im Dunst des Horizonts einen Streifen Meer blinzeln zu sehen.

Geruch nach Tang. Möwenschreie

Die Frau im grünen Unterkleid scheint nach dem Hinsinken einfach so geblieben zu sein. Erschöpft und erhitzt zerläuft sie wie ein Farbtropfen auf ihrem französischen Bett. Ihr rechtes Bein ist angewinkelt und abgespreizt, das Kleid dabei weit zurückgerutscht, um einen schönen prallen Oberschenkel sichtbar zu machen. Angewinkelt ist auch ihr rechter Arm, dessen Hand sie unter den Kopf geschoben hat, sodass der Ellbogen fast den Bettrand erreicht. Sie hat ihr Unterkleid gut gewählt, seine grüne Farbe bildet einen effektvollen Kontrast zu ihrem schwarzen Kurzhaar, das den Kopf wie eine Baskenmütze von Ohr zu Ohr bedeckt.

Hingegen verraten die freien Schultern und die sichtbare Partie des Décolletés, dass die Schlafende möglicherweise zu viel Sonne abgekriegt hat. Eine leichte Rötung ist zu sehen, von der auch der linke Arm betroffen ist, der sich locker neben der Liegenden ausstreckt und dessen Hand beinah den andern Bettrand berührt. Noch ist das quälende Brennen nicht zu spüren, die Frau geniesst ihre Siesta am weit offenen Fenster ungestört. Sie hat sich der hereinwehenden Sommerbrise durch leichtes Drehen ihres Oberkörpers und Neigen des Kopfes vollkommen ergeben.

Merkwürdige kurzbeinige Stühle

Gleichsam den Lufthauch zu empfangen, der hereinkommt und ihre blossen Stellen berührt. Möglicherweise trägt die Brise der Schlafenden den Geruch nach Tang und den Wellenschlag der Bucht, vielleicht waghalsige Möwenschreie, Signale von Schiffshörnern zu. Die Wände schimmern so grün und blau wie in diesen Tagen der Ozean. Vom oberen Bildrand her rinnt ein Baldachin aus lila Farbflecken ins Bild, die Farbe des Wassers bei hereinbrechender Nacht. Der Boden gleicht einer flammenden Küste im Sonnenuntergang, dabei werden diese ganzen klanglichen Ereignisse vom Bettgestell übernommen und zurückgespiegelt. Die Schlafende aber treibt, auf ihre rosa Matratze gebreitet, träumend in dieser Farbenflut.

Merkwürdig kurzbeinige Stühle stehen herum und es ist, als wollten sie gleich zu laufen anfangen. Der erste befindet sich nah beim Kopf der Ruhenden. Seine Lehne mit den drei Querstäben ist violett. Auf der Sitzfläche die abgelegten Kleider, ein roter und ein grüner Klecks, obendrauf der gelbe Sommerhut, der sich ebenfalls am Bettrand widerspiegelt und wie eine Sonne feiern lässt.

Eine gleissende Terrasse

Neben dem Stuhl kommt die Ecke, an die sogleich ein Fenster anschliesst. Sein Sims gibt den schrägen Verlauf, den das Bett ins Bild bringt, auf und folgt ab sofort parallel dem unteren Bildrand. Der offene linke Fensterflügel spiegelt einen Teil der gleissenden Terrasse dort draussen, ein winziges Stück des in der Hitze sich auflösenden Himmels und der Bucht. Grüne Vorhangbahnen mit blauen Tupfen. Sie wurden zurückgezogen und fallen links und rechts von der Decke.

Etwas unterhalb des Simses befinden sich zwei weitere Stühle. Ein sandfarbener und ein königsblauer. Auch sie haben drei Querstäbe an den Rückenlehnen und je einen, der die Stuhlbeine verbindet, von denen nur gerade die vorderen zu sehen sind. Merkwürdig kurz sind auch sie, die Sitzflächen reichen nicht einmal an die Höhe der Bettkante heran und die Lehnen enden noch unterhalb des Simses.

Aber das könnte der Perspektive des Malers geschuldet sein, der die Szene von oben betrachtet. Aus diesem Blickwinkel allein ist es ihm möglich, die Liegende zu zeigen, er wird jedoch dabei gezwungen, die Stühle in der Aufsicht zu darzustellen. Vielleicht sind es Stühle von Kindern, welche diese vergessen haben. Eben noch hatten sie sie herbeigeholt, um aus dem Fenster das Meer sehen zu können. Und legten vielleicht zu diesem Zweck die Kissen auf die Sitze. Auf den sandfarbenen ein oranges, auf den blauen ein rosarotes. Oder ist es lila? Dieselbe Farbe jedenfalls wie der Bogen über dem Bett, der einen Baldachin andeuten oder auch bloss eine bestimmte Tongebung herbeimalen möchte. Sich auszudenken, wie die Frau sich nach der Ruhe auf eins der Stühlchen setzt, um vielleicht den Sand aus den Strandschuhen zu schütteln, die sie wieder überstreifen will. Die Stühlchen müssten unter ihr verschwinden, ihre Knie müssten bis an ihr Kinn reichen.

Es ist, als ob der Maler auf einer Leiter steht oder auf einem Schrank sitzt und in aller Ruhe sein Bild entwirft. Übrigens wusste ich lange nicht, ob dort wirklich ein Teppich liegt. Es könnte auch ein rot gefärbter Boden sein, dachte ich. Aber dann sah ich, dass er nicht der Ecke folgt. Er erstreckt sich, wie jeder normale Teppich, an der Fensterecke vorbei und geradeaus weiter. Und dann erst sah ich auch die feine halbfertige Linie, die anzeigt, wo in diesem Raum die Wand den Boden trifft.

Vernachlässigt der Maler die Kunst der Perspektive?

Vergessen wir nicht die kleine Zeichnung über dem Bett. Sie verläuft ganz exakt in Übereinstimmung mit dem oberen und den seitlichen Bildrändern. Und dabei scheint es, als vernachlässigte hier der Maler die Perspektive. Das kleine Gemälde im Gemälde hängt irgendwie quer über dem Kopfende des Bettes, statt sich dessen schrägem Verlauf anzugleichen. Als Betrachterin frage ich mich, was Herr Matisse damit beabsichtigte. Eine Reverenz vielleicht an die Moderne seiner Zeit, die sich gern über Regeln wie eine saubere Perspektive hinwegsetzte? Bedeutend ist die Aussage eines Werks, die den Mut zur Beunruhigung aufbringt. Und dafür ist eine verzerrte Ansicht hilfreich. Die Menschen stutzen, sie weiden sich für eine Weile nicht mehr an Stimmung und Schönheit allein. Sie haben sich vielleicht sogar geliebten Erinnerungen hingegeben.

Das Bildchen könnte aber auch einen Fernseher andeuten, der auf einer Konsole in der Höhe steht. Wir kennen ja die Hotelzimmer der ganzen Welt: Das erste, worauf beim Eintreten der Blick fällt, ist ein grauer viereckiger Kasten, der in einer der vier Ecken in den Raum hinaushängt. Ihm verdankt der Hotelier einen zusätzlichen Stern. Von Vorteil wäre es, der Hotelier böte ausserdem eine erotische Videothek für die Stunden nach Mitternacht an. Er wäre in diesem Fall berechtigt, seinem Haus einen fünften Stern zu beschaffen. Nur, Henri Matisse, der Maler, kannte das Fernsehen noch nicht. Vielleicht hat er versucht, uns den Traum der Schläferin im Unterkleid sichtbar zu machen. Und hielt sich dabei exakt an die häufige Unschärfe der Träume.

Die notwendige Tiefe

Durchs weit offene Fenster zeigt er uns auf der Terrasse eine zweite Frau. Sie steht barfuss, in rotem Kleid und rotem Hut, sie stützt die Ellbogen auf die Balustrade und beobachtet die Bucht von Collioure zu ihren Füssen. Ins schwarze Haar hat sie eine grüne Masche gebunden, die dort allerdings kaum auffällt. Sie wartet, dass die Zeit vergeht, dass die Schlafende erwacht (vielleicht ihre Schwester?), dass etwas passiert. In der Bucht ereignet sich um diese Zeit auch nichts, ist sie doch öde und leer. Die Frau harrt aus, lässt träge die Minuten dieses Nachmittags verstreichen. Eine nach der andern.

Die Terrasse ist heiss und ohne Schatten, sie aber trägt vermutlich viel zu warme Kleider. Warum geht sie nicht ins Haus und legt sich ebenfalls schlafen? Unter ihrem Kleid käme wahrscheinlich derselbe grüne Unterrock ans Licht wie bei der andern. Kann es sein, dass diese Rote einzig und allein darum so beharrlich da draussen am Geländer stehen muss, weil ohne sie dem Maler der schlafenden Signora die notwendige Tiefe fehlt in seinem Bild?

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