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Ein Morgen im Krankenhaus

Das beste Medikament – der Mensch

Das beste Medikament ist rar. (Bild: Adobe Stock)

Manchmal kann man nur noch das Nötigste tun, doch bleibt selbst dafür nicht immer Zeit. Literaturblogger André Winter schreibt eine kurze Geschichte zum besten Medikament und warum es so rar ist.

Morgenrapport. Alle Pflegenden sassen – mit Masken natürlich – auf den paar Stühlen im Stationszimmer. Platz hatte es genug. Wieder drei Kolleginnen weniger. Zwei in Quarantäne, die eine bestätigt positiv, die andere wartete noch aufs Resultat. «Manuela hat sich eben krankgemeldet», sagte die Nachtwache. Erschöpfung dachten alle.

Die Pflegefachfrau schloss ihren Bericht ab. «Signora Pinella hat wieder nicht geschlafen, die Schmerzen …» Sie scrollte im Pflegebericht runter. «Bereits die dritte Nacht.» Alle wussten, dass sie zwei verschiedene Opioide bekam, hochdosiert. Viel mehr war nicht mehr möglich. Schon jetzt litt die Signora unter den vielen Nebenwirkungen. Verstopfung, Übelkeit, Erbrechen, sie ass kaum noch etwas. Vielleicht hatte sie Metastasen. Wenigstens das wollte der Arzt nicht mehr abklären. Alle hatten sich das Ihre gedacht, als sie vor ein paar Wochen seine Verordnung lasen: «Biopsie der linken Brust».

Bei einer Neunzigjährigen! Die Punktionsstelle ging nicht mehr zu, ihre Brust war jetzt offen. Es roch im Zimmer, manchmal ertrug man es kaum.

Die Demenz hatte ihr diese Sprache genommen

Die Tagesverantwortliche verteilte die Arbeit. «Wir machen wieder nur das Nötigste. Hanna, du gehst zur Signora, nachher zu Frau Ott und …» «Aber, ich kann doch gar nicht Italienisch.» Sie ging nicht gerne zu ihr, in dieses Zimmer. Der Geruch, sehen zu müssen, wie langsam sie stirbt. Die Verantwortliche schaute in die Runde. «Siehst du hier sonst jemanden, der Italienisch kann?» Die junge Pflegeassistentin errötete, schüttelte den Kopf. Als sie Signora Pinella kennenlernte, sprach sie noch ein bisschen Deutsch. Jetzt hat die Demenz ihr diese Sprache genommen.

Alle standen auf, gingen zu ihren Bewohnern. Hanna klopfte, öffnete die Tür. «Buongiorno, Signora.» Signora Pinella sass auf ihrem Sofa, grüsste nicht. Sie sah so klein aus, nur noch Haut und Knochen. Ihre Augen geschlossen, die Hand auf ihrer Brust. «Fa male, fa male», sagte sie mit trockener Stimme. Leise.

So viel Italienisch konnte Hanna. Sie wollte etwas tun. Ihr irgendwie helfen, das Fenster öffnen, ihr etwas zu trinken reichen. Irgendetwas. Egal. Sie wusste nicht, was, stand hilflos da.

Der Mensch ist das beste Medikament

Dann setzte sie sich zu ihr aufs Sofa, eigentlich durfte sie das nicht. Sie waren doch so wenige, sie hatten so viel zu tun. Kaum sass sie neben ihr, suchte die alte Frau ihre Hand. Drückte sie und legte ihren Kopf an Hannas Schulter. «Fa male», sagte sie wieder. Hanna nickte stumm, sah zu ihr hin. Hörte, wie Signora Pinella seufzte – und einschlief. Sie wartete, bis ihre Atemzüge tiefer wurden. Vorsichtig bettete sie sie aufs Sofa. Breitete eine Decke über sie.

Der Mensch ist das beste Medikament, hat ihr Lehrer einmal gesagt. Ein rares Medikament, dachte sie. Sie musste weiter. Weinen würde sie zu Hause. Wie so oft in letzter Zeit.

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