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Wenn die Pistenraupe zum Iglu kommt

Begegnungen in nächtlichen Mondlandschaften

Pistenfahrzeug für die Mondhänge: das Mondmobil von Apollo 15, 1972. (Bild: NASA)

Unser Korrespondent in einem Skisportort kann mit den nächtlichen Einsätzen der Pistenfahrzeuge nichts anfangen. In der Geschichte von Adrian Hürlimann träumt er davon, sie auf den Mond zu schiessen, wo sie sich zu den kosmonautischen Mondmobilen gesellen mögen.

«Auf, abermals ein neues Jahr! Wieder eine Poststation, wo das Schicksal die Pferde wechselt», schrieb Lord Byron vor zwei Jahrhunderten. Vor unseren Augen wurden allerdings nicht die Pferde gewechselt, sondern die Pistenfahrzeuge.

Grimmige Monster, mit grellen Lichtaugen die Landschaft erkundend, schienen sie wild entschlossen, auszuziehen in die klare, helle und kalte Mondnacht. Das nahezu volle Rund des Erdtrabanten leuchtete über uns und sorgte für die willkommene Beleuchtung der Topografie im Umkreis des Hotels. Der Kleine war ganz wild darauf, ein Iglu zu bauen, und hackte mit seiner kleinen Plastikschaufel in die harte Bruchharstoberfläche am Wegrand.

Der grosse Schaufler suchte ihn, die Intentionen des Baumeisters intuitiv nachempfindend, nach Kräften zu unterstützen, so gut es eben ging. Ein beachtliches Loch war bereits ausgehoben, in das der Kleine begeistert hineinsprang. Und da schlichen sich eben besagte Rieseninsekten heran, uns entgegen, meine Gedanken zur Jahreswende unterbrechend.

Sie erinnerten mich an die gigantischen, zu Riesenviechern mutierten Insekten und Spinnen in den futuristischen Schwarzweissfilmen der Fünfzigerjahre – an Formicula, Tarantula oder ihre gern als Solitär auftretenden Spiessgesellen, an monsterartige Skorpione oder grausliche Spinnen. Nicht einmal die Armee mit allerhand schwerem Geschütz vermochte ihnen beizukommen.

Alles geschah stets im Dunkel der Nacht, erhellt von nervösem Scheinwerfergeblinke, und die schlaue Zivilcourage unerschrockener Spontanhelden war wie kaum je gefragt. Zufälligerweise waren diese immer in Begleitung einer attraktiven Freundin, mit der sie gerade eine Beziehung anzubahnen suchten.

Die Gelegenheit, sie nachhaltig zu beeindrucken, erwies sich hierbei als günstig, geradezu einmalig, zumal entschlossenes Vorgehen als unilaterales Privileg dem männlichen Geschlecht zustand, alles spektakulär in Szene gesetzt.

Kolossale Konfrontation

So standen wir also mit Schaufeln bewehrt in der schwarzen Kälte des noch jungen Jahres. Der grosse Schaufler, ob der lautstarken Unterbrechung der menschenleeren Stille einigermassen aufgebracht, von seiner Entrüstung über die Lichtverschmutzung einmal abgesehen, ging auf eine dieser beraupten Kolosse zu und fragte den Fahrer, ob er seine Arbeit unbedingt in den heiligen Stunden des Feierabends verrichten müsse.

Dabei kam mir das Märchen vom Mann im Mond in den Sinn. Wie Ludwig Bechstein bekanntlich erzählt, geht es dort ebenfalls um einen Mann, der in der Freizeit arbeitete. Er ging in den Wald, um Holz zu sammeln – und das an einem heiligen Sonntag. Da begegnete ihm ein älterer Herr – also ich, der Schaufler mit dem imposanten Gerät – und wies ihn - es handelte sich schliesslich um den lieben Gott - zurecht.

Sonntag auf Erden oder Mondtag im Himmel, das sei ihm einerlei, ginge ihn nichts an und seinen Befrager auch nicht, antwortete der freche Erdenbürger, der ein solcher bald nicht mehr sein würde. Denn der Herr sprach zu ihm: So sollstdDu deine Reisigwelle tragen ewiglich!

Und weil der Sonntag auf Erden dir so gar unwert ist, so musst du fürder ewigen Mondtag haben und im Mond stehen, als ein Warnungsbild für all jene, die den Sonntag – und wohl eben auch den Feierabend, möchte ich präzisieren – mit Arbeit schänden! Und die happy hour selbstverständlich auch.

Ewig ans Himmelszelt gebannt

Ein Warnungsbild, für alle Menschen, gut sichtbar auf unserem allabendlich hell erscheinenden Trabanten: bei Nichtbeachtung des Gebots würden sie in gleicher Weise entsorgt. Zwar nicht aus den Augen, weil nach wie vor sichtbar, aber doch aus dem Sinn. Gerade so, wie man es mit dem Atommmüll ganz gern machen würde. Das haute hin, zweifellos!

Ganz gewiss würde er, der allwissende alte Mann, auch unsere motorisierten Ruhezeitfrevler auf den Mond schiessen – und ich, der grosse Schaufler, würde es in gefühlter Tateinheit mit ihm tun. Mein kleiner Kumpan mochte das freilich anders sehen, hatte er doch ein markantes Faible für Raupenfahrzeuge aller Art, und die vor uns aufkreuzende Spezies des Pistenfahrzeugs wirkte einmal mehr überaus faszinierend auf ihn.

Ich aber wünschte diese Nachtruhestörer, ganz wie Ludwig Bechstein und sein lieber Gott, durchaus auf den Mond und für allemal entsorgt. Dort würden sie jedenfalls keine Bewohner mit Lichtgezünde und Dieselkrach belästigen, und gross und bedrohlich wären sie auch nicht, stechen doch die früher platzierten Mondmobile unsereins nicht einmal hier unten ins allzu menschliche Auge.

Kein Wunder, dass das russische Mondmobil, die Lunochod 2, 37 Jahre verloren gegangen und nur zufällig vom Konkurrenten, dem Mobil der Apollo-15-Mission, entdeckt worden war. Die wüstenartige, baumlose Leere würde den zusätzlich exportierten Maschinentieren durchaus vertraut vorkommen.

Und arktische Temperaturen, das habe ich gelesen, herrschen dort sowieso. Die Fahrzeuge aus dem Kalten Krieg hätten sicher ganz gern Gesellschaft. Ich bin überzeugt, wenn ich genau hinsähe, könnte ich sie beim Betrachten des vollen Mondes wahrnehmen, wenigstens gefühlt, und ich hätte meine Ruhe hienieden. Lass uns ruhig schlafen, und die Natur, den kranken Nachbarn, auch.

Träumereien dieser Art sind vor allem im noch jungen neuen Jahr angesagt und gesund. Wie meinte doch der grosse Philosoph Georg Christoph Lichtenberg, aphoristisch zuschlagend:

«Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden.» Besser wurde es sogleich, als die Skorpionsbrüder gierig die Pistenhänge hinaufkrochen, die im Scheinwerferlicht erstrahlten und dem Mondlicht Konkurrenz machten.

«Fahrt nur drauflos, bald fahrt ihr im Mondkrater!», dachte ich grimmig, ergriff die Schaufel und gesellte mich, klein beigebend, zu meinem jungen Iglubauer. Wir nahmen trotzig mit dem Schein des Mondes vorlieb.

Pistenfahrzeug für die Mondhänge: das Mondmobil Lunochod 2, 1973. (Bild: zvg)
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