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Weihnachtskarten für Herrn K

Bärchtelistag

Herr K mit 40. (Bild: kzt)

Alles hat er sie stundenlang machen sehen, seine Mutter, als ob der Tag nie aufhörte. Sie kochte, sie erledigte für seinen Vater die Buchhaltung, schrieb Briefe von Hand, nähte Kleider, lag mit geschlossenen Augen im Bikini an der Sonne, wenn es die Temperaturen zuliessen – alles Tätigkeiten, die nicht im Nu erledigt werden konnten. Daneben hat sie vier Kinder grossgezogen, seine drei Schwestern und ihn.

Sein Vater war Kundengärtner, selten über Mittag zu Hause. Nur wenn er in der Nähe arbeitete. Und der Prophet im eigenen Land wäre arbeitslos geblieben, hätte er nicht in auswärtigen Gärten zum Rechten geschaut und weite Anfahrtswege in Kauf genommen. Heute hat man keine Zeit, sinniert Herr K. Die hat man schon längst den Mächtigen abgegeben. Aber Herr K. wehrt sich, so gut er kann. Arbeiten bis zur Dunkelheit? Noch rasch am Samstag was erledigen? – Nein, danke! Lieber wird er Beamter, da ist die Gefahr von Überstunden und Wochenendeinsätzen gering.

Photo aus Album. (Bild: kzt)

Ein historisches Photoalbum

Herr K sitzt am Bärchtelistag in seinem bequemen Sessel und betrachtet ein Photoalbum. Wie die Zeit vergeht! Er bekommt den Eindruck, er blättere in einem Geschichtsbuch und nicht in seinem Familienalbum.

Wie alt ist jetzt Paul, der Sohn seiner jüngeren Schwester Maria, sein Göttibub? Wird der in diesem Jahr nicht schon 20? Der ist doch erst gestern zur Welt gekommen!

Herr K weiss schon lange, was er Paul zum 20. Geburtstag schenken wird: «Die Geschichte der Architektur in 20 Bänden». Da hat es im letzten Band ein ganzes Kapitel über Gartenarchitektur und dieses Fach will der Paul ja studieren.

Er hat sich auch schon lange mit Ma abgesprochen, wo Paul die Bücher hinstellen könnte, sollte er bis dahin keine eigene Wohnung oder zumindest ein Zimmer in einem Studentenwohnheim bezogen haben, was Maria sehr bezweifelt. «Beat, die Zeiten haben sich geändert. Studentenheime sind passé, WG, rb&b, Hotel Mama, das ist jetzt Realität!»

Und Herr K. hat schon längst vergessen, wie lange er selber zu Hause gelebt hatte, bevor er ausgezogen ist. Er steht auf und geht zu seinem Tisch, auf dem er alle Weihnachtsgrüsse, die er erhalten hat, ausgelegt hat, und beginnt sie zu ordnen.

Weihnachtskarten für Herrn K. (Bild: kzt)

Auf ein besseres 2021!

Ein maschinengeschriebener Jahresrundumschlag seiner älteren Schwester Susanne, das Thema Angst, Quarantäne, Isolation, Impfung – als habe sie den Leitfaden des BAG zur Vorlage ihres Schreibens genommen, eine vorgedruckte Karte ihrer Zwillingsschwester Thekla, die bei ihrem für ihn im wahrsten Sinn des Wortes schleierhaften Klostereintritt zu Schwester Matilda mutiert ist und deren mitunterzeichnende Ordensgemeinschaft ihm verspricht, das Virus wegzubeten, eine Grusskarte der Gemeinde, des Kaminfegers, eine des Zahnarztes, eines Hilfswerks in Afrika, eines weiteren in Asien, eines in Zürich sowie mehrerer Institutionen wie Naturschutz, Automobilschutz, Fastenopfer und unzähliger mehr – alle diese Karten und Briefe hat er gesammelt.

Zwei handgeschriebene und mit echter Briefmarke versehene Festtagswünsche haben ihn ebenfalls erreicht.

Einer von seiner jüngeren Schwester Ma, auf dem auch sein Göttibub Paul mit unleserlicher Schrift eine Zeile an ihn richtet, und ein weiterer von seinem Nachbarn, Herrn F, mit dem ihn einst eine platonische Freundschaft verband. Jedes Jahr schickten sie einander stets am gleichen Tag eine Karte. Handgeschrieben, mit echter Briefmarke – Pro Patria, da hat man gleich noch eine gute Tat vollbracht.

Herr K würde seinem Nachbarn gerne das Du anbieten, doch es hat sich einfach noch keine Gelegenheit dazu ergeben.

Briefmarken «Pro Patria». (Bild: kzt)

Da liegen sie nun alle, die Briefe und Karten, auf zwei Stapeln – die beiden handgeschriebenen und die 21 gedruckten. Auch der Jahresrundumschlag seiner Schwester Susanne liegt auf dem Stapel unpersönlicher Karten und Briefe. Er staunt jedes Jahr, wie es ihr gelingt, ihr langweiliges Leben auf zwei Seiten auszubreiten. Auch die Klostergrüsse landen inklusive Einzahlungsschein auf diesem Stapel.

Auf dem anderen liegen die beiden handgeschriebenen Karten, aufgefaltet. Wieder setzt sich Herr K in seinen Sessel und versinkt in einer Art philosophischer Trance. Das würde man ihm gar nicht zutrauen, so viel Gefühl. Wobei, für ihn hat das nur mit logischem Denken zu tun:

Je mehr auf ein Blatt gedruckt oder geschrieben ist, desto weniger ist das einzelne Wort wert. Wörter brauchen Freiraum, um sich zu entfalten. Er braucht Bedenkzeit.

Herr K. legt die beiden Stapel auf eine imaginäre Waage und sieht, wie die gewichtigen Gedanken der beiden persönlichen Karten mühelos den ganzen Stapel unpersönlicher Post aufwiegen. Je tiefer die Gedanken, je berührter er von den Zeilen ist, die in sein Innerstes dringen, desto höher hinauf werden die übrigen Briefe katapultiert.

2 : 21 = Inhalt : Rahmen

Die 21 Festtagswünsche entsorgt er auf der Altpapierbeige und stellt die beiden übrig gebliebenen Grusskarten auf seinen Sekretär, wo er sie bis Anfang Februar aufbewahren wird. Danach kommen sie in die Schublade, in sein Archiv.

Oh, Herr K! Was hast du alles in deiner Schublade aufbewahrt? Nur einen kurzen Blick kann ich in das Sammelsurium werfen, dann hat er die Schublade schon wieder verschlossen. Schon sitzt er erneut in seinem bequemen Sessel.

Herr K ist ganz zufrieden. Für ihn hat das vergangene Jahr überhaupt nichts Negatives gebracht. Das Virus kam ihm eher entgegen, ist er doch sehr gerne für sich und seine Reisen kann er erleben, ohne sich vom Sessel zu erheben. Ein alter Atlas, ein Album mit verblichenen Familienfotos und schon spürt er die salzige Meeresluft. In seinen Erinnerungen klebt kein Sand auf verschwitzten, mit Sonnencreme verschmierten Kleidern.

Jedoch für seinen Nachbarn F hat das vergangene Jahr denkbar schlecht angefangen. Lotta hat ihn verlassen. F wusste schon Monate zuvor, dass es zu Ende ging. Immer seltener waren sie bei ausgedehnten Spaziergängen anzutreffen gewesen. Auch stimmte seit Längerem mit ihrem Magen nicht mehr alles. Tagelang blähte sie sich und furzte, was unanständig roch und dann begann sie auch noch zu saufen.

«Nieren!», sagte der Tierarzt. «Das sind die Nieren. Die Hündin schafft es nicht mehr lange.»

Herr K war nicht wirklich traurig, dass die 16-jährige Pudeldame zum letzten Spaziergang aufgebrochen war, vom dem sie nie mehr zurückkehren würde. Er kann mit Hunden einfach nichts anfangen. Wenn sie stinken, noch viel weniger.

Herr K. in Kreide. (Bild: kzt)

Vorsätze – Nachwörter

«Vorwärts schauen! Den Stier an den Hörnern packen!», hört er seine Mutter, der nie die Zeit auszugehen schien, etwas zu erledigen, ihn ermahnen. So hat es sich auch unser Herr K zu eigen gemacht, seine Denkpausen konstruktiv zu nutzen. Jedes Jahr ist neu, neuer, am neuesten.

Und Herr K wird alt, älter, am ältesten. Deshalb fasst er sich keine unrealistischen Vorsätze mehr. Damit er am Ende des Jahres nicht so alt aussieht. In seiner Schublade liegen Pläne und Konzepte zur Weltverbesserung.

Herr K lebt gut von seiner Pension, es bleibt ihm jeweils genug Geld übrig, um Ende Jahr ein neues Auto zu kaufen, aber das will Herr K nicht. Was soll er mit so vielen Autos? In seiner Garage hat er nur Platz für den alten Ford Escort seines Vaters. Ausserdem fährt er ungern Auto, da er es nicht erträgt, wenn einer ihn anhupt. Dabei fährt er äusserst exakt. Noch nie hat Herr K eine Geschwindigkeitsbusse eingefangen. Nicht einmal von einer hinterlistig aufgestellten Radarfalle. Da kann man was von ihm lernen! Bei ihm sollte man in die Fahrschule gehen!

Und Herr K gibt sich weiter seinen Gedanken hin und denkt darüber nach, ob es nicht längst an der Zeit ist, eine Partei gegen Laubbläser zu gründen. Das Laub darf nicht aufgewirbelt werden, da bin ich dir noch eine Geschichte schuldig, das weiss ich.

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