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Wem fehlen Lesungen?

Weshalb ich als Autor auf Facebook verzichte

Das Mikro bleibt vorerst im Keller. (Bild: cer)

Facebook wäre eine Alternative, um in einer Zeit fast ohne Lesungen mit dem Publikum in Kontakt zu bleiben. Weshalb der Zuger Autor Silvano Cerutti dennoch darauf verzichtet.

Ob sie auch an Lesungen gehe, fragte ich mal eine Kioskverkäuferin, die ich für ihren trockenen Humor sehr schätzte und von der ich wusste, dass sie gern und viel liest. «Ich kann selber lesen», antwortete sie. Das war einer der besten Kommentare zu Literatur, den ich je bekommen habe. Der Satz begleitet mich bis heute, aber zur Erklärung muss ich etwas ausholen.

In der Zeit vor der Pandemie waren Lesungen ein wichtiger Bestandteil der Arbeit als Autor. In der Deutschschweiz wahrscheinlich sogar mehr als irgendwo sonst. Man schätzt es hier, nahe an den Autorinnen zu sein und Fragen stellen zu können – wenn man sich traut. In Deutschland beschwerte sich einmal eine Zuhörerin empört bei mir: «So wie Sie das gelesen haben, kann ich das aber nicht.»

Reaktionen zeigen, was funktioniert

Ich habe immer gerne live gelesen, ich habe oft live gelesen und ich habe viel geübt, um einigermassen gut live zu lesen. Ich erhielt bei Lesungen durch die Reaktion des Publikums wertvolle Rückmeldungen, was in einem Text gut funktioniert und was weniger. Ich freue mich auf die Zeit, in der man wieder unbeschwerter wird auftreten können – in ein, zwei, drei Jahren vielleicht.

Aber Lesungen, so der Vortrag nicht stockend und gemurmelt, sind aerosol-intensiv. Da bleibt man gerade wegen der anhaltenden Unsicherheit bezüglich der Delta-Variante doch lieber zu Hause. Das ist verständlich und vernünftig.

Erwartungshaltungen erfüllen

Jetzt könnte ich natürlich eine Lesung streamen – aber ich habe selbst schon keine Lust, mir sowas am Computer anzusehen. Das Gefuchtel der Hände, die Grimassen beim deutlichen Artikulieren wirken am Bildschirm eher lächerlich, live hingegen entfalten sie eine gewisse Dynamik.

Das Naheliegendste wäre aber, mir beim Social-Media-Platzhirsch Facebook ein Konto einzurichten. Dort könnte ich Bilder von meiner Tastatur posten, vom Kaffeetrinken, von gekritzelten Notizen, nostalgischen Schreibmaschinen oder was Schöngeister sonst noch so zeigen sollten, um Erwartungshaltungen zu erfüllen.

Das Mikro bleibt im Keller

Aber damit würde ich – in aller Harmlosigkeit – nicht nur einen Konzern unterstützen, der genau weiss, wie zersetzend sein Tun für die Demokratie ist, daran aber nichts ändert, weil Gewinn über alles geht. Ich würde auch ein System unterstützen, das grosse Mengen von Werbegeldern bindet. Diese Werbegelder fehlen wiederum auch in der Schweiz der freien Presse, welche sich an journalistische Standards halten muss und die zu einer funktionierenden Demokratie gehört.

Zum Autor

Der Autor Silvano Cerutti ist im Kanton Zug aufgewachsen, lebt und arbeitet heute in Bern.

Nun ja. Ich verweigere mich Social Media nicht grundsätzlich und arbeite auch an einem entsprechenden Format für nächstes Jahr – nur eben nicht auf Facebook. Das Mikro bleibt vorläufig im Keller. Bis bessere Tage kommen, helfen Geduld und der Gedanke daran, dass ich in erster Linie für Menschen schreibe, die selber lesen können. Die kamen schon vor Corona nicht unbedingt an Lesungen.

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