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Patrick Hegglin über Literaturkompetenz

Literatur im Alltag: Slogans und Aphorismen

Am Eingang des Gränichers prangt der Slogan. (Bild: mir)

Das «woerdz» ist vorbei, Laurie Anderson, PJ Harvey und all die vielen interessierten Zuschauer wieder nach Hause gegangen. Folgen jetzt wieder zwei Jahre Flaute? Mitnichten! Literatur ist überall. Man muss ihr aber kompetent begegnen. Heute lernen wir etwas über den Aphorismus.

Der gekonnte Aphorismus, das muss man so sagen, ist eine hinterhältige Form. Er besteht aus einem Körper und seinem Schatten. Der Körper, er kommt auf einen zu, streckt freundlich die Hand aus und sagt etwas anscheinend ganz Unverfängliches. Unterdessen schleicht sich sein Schatten an, von hinten, der Seite, oben oder unten, und klebt sich an einen dran, hinten an den Gehrock, oder seitlich an die Epauletten, an den Dreispitz oder die Reiterstiefel. Und dann, plötzlich, dringt er in einen ein, und öffnet einem die Augen. Sneaky, sneaky, Aphorismus.

Der Duden definiert den Aphorismus folgendermassen: «Aphorismus, der; prägnant-geistreicher, in sich geschlossener Sinnspruch in Prosa, der eine Erkenntnis, Erfahrung, Lebensweisheit vermittelt.»

Nach unten ist der Aphorismus abzutrennen vom bodenständigen Sprichwort, nach oben allenfalls vom Aperçu. Oder, um es mit einem Aphorismus Carl Ludwig Schleichs zu sagen: «Das Sprichwort ist Brot, der Aphorismus das Fleisch, das Aperçu das Dessert der Geistesnahrung. Alle drei haben etwas Pikantes und Knuspriges.» Lecker.

Schleich war bestimmt ein Hit an Cocktailparties. Kaum zu glauben, dass ausgerechnet er die Anästhesie erfunden hat. Der Schatten dieses scheinbar leicht verdaulichen Satzes: Mit welchem Geschick die Bourgeoisie dem Proletariat verkauft, dass deren hartes Brot doch auch ganz fein ist. Während sie selbst Kuchen isst. Der Aphorismus als Machtinstrument der herrschenden Klasse; hier affirmiert er sich selbst. Sneaky, sneaky, Aphorismus.

Der neue Sinnspruch

Der Aphorismus ist zeitlos. Und doch: Liest man einen, steht da meist der Name eines Toten darunter, und eine Jahreszahl, die mit einer Eins beginnt. Ich würde aber behaupten, dass die evolutionären Nachfolger des Aphorismus überall um uns herum sind: in den Slogans. Sie kommen einem entgegen, strecken vielleicht etwas aufdringlich die Hand aus, und sagen Sachen wie: «I’m loving it.» (Der Schatten hier: eine subtile, aber tiefschürfende Kritik an den kurzlebigen Konsumvergnügen einer hyperkapitalistischen Welt, kondensiert im present continuous «loving»).

Oder: «Life is too short for long workouts.» (Der Schatten: eine subtile, aber tiefschürfende Kritik an den unmöglich zu erfüllenden Selbstoptimierungsansprüchen einer hyperkapitalistischen Welt. Ausserdem werden wir alle bald sterben. Oje, oje.)

Erlauben Sie mir, Ihnen ein weiteres Beispiel ausführlich vorzuanalysieren. Beim Eingang von Gränicher an der Bahnhofstrasse in Luzern hängt ein Plakat, darauf steht: «Beauty begins the moment you decide to be yourself.» Gränicher begeht eine Fehlleistung, indem nicht ausgewiesen wird, dass es sich hierbei um ein Zitat von Coco Chanel handelt. Das stützt meine These vom Slogan als neuem Sinnspruch bereits. Gränicher begeht eine zweite Fehlleistung, die ich Ihnen am Ende dieses Textes enthüllen werde. Es bleibt spannend.

Coco Chanel, das ist eine weitere, allgemeine Fehlleistung, ist eine völlig missverstandene Denkerin. Man könnte meinen, sie habe vor allem über Mode gesprochen. Tatsächlich ist sie viel grundsätzlicher, wie ich ihnen am oben genannten Zitat zeigen werde. Auf den ersten Blick präsentiert sie uns hier eine simplistische Feel-good-Pseudoweisheit. Sei du selbst, dann bist du schön. Oder? «Nein», sagt der Schatten, der mittlerweile durch den Dreck unter den Fingernägeln gekrochen ist. «Nein, nein, nein!», sagt er.

Von der Entscheidung

Es passieren zwei Dinge in Chanels Aphorismus, wovon das erste mit dem Verb «to begin», das zweite mit dem Verb «to decide» gekennzeichnet ist.

Beginnen wir beim zweiten: jemand «decides to be her-/himself». Denken wir kurz über das Verb «entscheiden» nach. Einer Entscheidung geht eine Problemstellung voran, und ein Prozess, der mal länger, mal kürzer ist, mal bewusster, mal unbewusster, und den man mit «abwägen» zusammenfassen kann. Versetzen wir uns in eine allgemein bekannte Situation. Sie sind an einer Cocktailparty. Ihr Gesprächspartner besteht darauf, den Strukturalismus zu diskutieren. Sie aber haben gerade die Fahnenkorrektur Ihrer in Kürze erscheinenden Monographie zu Gilles Deleuze beendet.

Problemstellung: «Soll ich auf das Thema eingehen?» Abwägen: «Ich würde heute Abend gerne mal wieder über etwas anderes reden. Über Digital Modernism zum Beispiel. Andererseits kann es nicht schaden, den Präsidenten der Wiesengrund-Vereinigung etwas zu beeindrucken. Alas!» Entscheidung: «Ich gehe mal ans Buffet.»

Als räumliche Bewegung gedacht, ist die eigentliche Entscheidung ein abrupter Sprung in eine bestimmte Richtung. Im obigen Beispiel in Richtung der Kaviarhäppchen.

Wenden wir das nun auf Chanels Aphorismus an. Die Problemstellung ist grundsätzlicher Natur; so grundsätzlich, wie Grundsätze sein können: «Wer bin ich?»

Man muss dann abwägend zur Erkenntnis kommen, dass man nicht man selbst ist. Woran man das erkennen kann, darüber gibt der erste Teil des Satzes Aufschluss, auf den wir zurückkommen. Zuletzt dann der Sprung in eine bestimmte Richtung: zu sich selbst.

Was aber ist das Selbst?

Von der Identität

Zu diesem Thema wurden Bücher geschrieben, werden Bücher geschrieben, werden Bücher geschrieben werden. Hat jeder Mensch einen inneren Kern, eine Wahrheit, ein für ihn vorgesehenes Selbst, das er zu erreichen erstreben sollte? Damit würde man sich auf der «nature»-Seite der psychologischen «nature vs. nurture»-Debatte positionieren. Es geht darin um die Frage: angeboren oder angelernt? Man könnte an dieser Stelle Zwillingsstudien heranziehen, aber ich will Sie ja nur mit Literatur langweilen, und nicht mit Psychologie.

Aber auch «nature vs. nurture» beiseite; wie stabil ist denn so eine Identität? Antonio Negri und Michael Hardt, die Autoren der neo-marxistischen «Empire»-Trilogie, sind etwa der Meinung, dass, um zu einer gerechteren Welt zu gelangen, als erstes das Konzept der Identität abgeschafft werden muss, zugunsten eines flexibleren Selbst; der «multitude». So können die Barrieren von race, class und gender überwunden werden. So werden keine Erwartungen mehr an einen gestellt, abhängig davon, wo und als wer man geboren wurde, die man dann brav an Selbstverwirklichung glaubend zu erfüllen hat.

Chanel positioniert sich unklar. Es ist durchaus möglich, dass sie von einem flexiblen Identitätskonstrukt ausgeht, das je nach Situation ein anders gekleidetes «Selbst» erlaubt. Es handelt sich hier, wie wir sehen werden, um ein Scheingefecht. In Chanels Philosophie ist diese Fragestellung in einer höheren Wahrheit aufgelöst.

Notwendig ist aber, wie erwähnt, eine Entscheidung, ein bewusster Akt. Man selbst zu sein, so suggeriert es Chanel, ist einem nicht angeboren.

Sind Babys also hässlich? Werden Teenager unattraktiver, bevor sie schöner werden, weil sie sich in ihrer Verwirrung zunächst von sich selbst entfremden, bevor sie sich näher kommen? Wir finden alle Antworten beim Blick auf die zweite Veränderung in Chanels Aussage: «Beauty begins».

Vom Beginnen und von der Schönheit

Im «Beginnen» liegt eine deutlich sanftere Bewegung als im «Entscheiden». Man muss das «Beginnen» unterscheiden vom «Anfangen» – das wäre im Englischen «to start». «To begin» ist kein plötzlicher Sprung, sondern ein gradueller Prozess. So wie ein Tag beginnt, oder die langsame Entfremdung zweier Liebender. Ja, wie eine Blume zu blühen beginnt, und später verwelkt. Ach, Coco Chanel, mit welcher Schönheit du über die Schönheit zu schreiben weisst! Ja, die Schönheit. Beachten Sie: Es ist nicht die Rede von individueller Schönheit. Nicht die Schönheit des in der zweiten Person Singular angesprochenen Lesers. Es ist die Schönheit im Allgemeinen. Weil Wahrnehmung aber doch Sache jedes Einzelnen ist, ist auch das Beginnen dieser Schönheit in der Welt Sache jedes Einzelnen. Mit einem Aphorismus gesagt: «Schönheit liegt im Auge des Betrachters.»

Autosuggestion als Chance

Chanel geht es also nicht darum, was man ausstrahlt. Nicht darum, wie man von der Welt wahrgenommen wird, sondern darum, wie man die Welt wahrnimmt. Darin liegt auch die Möglichkeit der Erkenntnis des eigenen Unselbstseins. Die Welt erscheint Ihnen hässlich und grausam? Das liegt daran, dass Sie sich innerlich zerreissen. Treffen Sie die Entscheidung, machen Sie den Sprung zu sich, und Aleppo wird vor Ihren Augen auferstehen, schöner als je zuvor. Die Welt ist, was Sie daraus machen. Real ist, was in Ihrem Kopf passiert.

Der Begriff des «postfaktischen Zeitalters» ist vor einigen Monaten in die Medien herübergeschwappt. Damit ist die höhere Wirkungsmacht des «Meinens», des «Empfindens» gegenüber objektiv beweisbaren Tatsachen gemeint. Es wird dann gerne dem Internet die Schuld gegeben, den Echokammern, die darin entstehen. Dabei wird übersehen, wie unumgänglich dieses Phänomen ist, und dass das Internet bestenfalls zu dessen Sichtbarkeit beigetragen hat. Sie kennen es auch, wenn Sie mit jemandem zu tun haben, der oder die partout nicht einsehen will, dass «Le Veuf» der wichtigste Roman von George Simenon aus dem Jahr 1959 ist, und nicht «La Vieille». Total verblendet!

Das postfaktische Zeitalter zu antizipieren war ja die eigentliche Leistung von George Orwells «1984». Nicht der vorhergesagte Überwachungsstaat. Nicht der Telescreen, den Orwell falsch gesehen hat – wir tragen ihn freiwillig herum, und zahlen sogar noch dafür. Nein, die wichtigste Szene ist diejenige, in der O’Brien davon spricht, dass er, wenn er es wollte, wie eine Seifenblase schweben könnte. Weil er es glauben würde, und auch Winston es glauben würde. Und da sich die Realität nur in ihren Köpfen forme, wäre es wahr. Orwell bringt das Phänomen damit gekonnt auf den Punkt. Er war aber ein Apokalyptiker der Postfaktizität. Sie ist die Grundlage seiner Dystopie. «War is peace. Freedom is slavery. Ignorance is strength.» Mit der autosuggestiven Methode des «doublethink» sind das keine paradoxen Aussagen.

Coco Chanel versteht die Autosuggestion als Chance. Nur sie kann Ihre Seele retten. «Beauty begins the moment you decide to be yourself.» Wir alle, das ist die Wahrheit dieses Satzes, müssen unseren Teil leisten. Wir alle sind verantwortlich für die Welt, die wir sehen. Sie zu einem besseren Ort zu machen, den Prozess der Schönwerdung einzuleiten; dafür müssen wir uns entscheiden. Der wahre Kern einer jeden Person, ihre wahre Bestimmung, ist es, als Geburtshelfer der Schönheit zu fungieren.  

Wie dumm

Es mag nun noch Leser geben. Es mag sogar solche geben, die sich trotz all der höchst interessanten hier behandelten Themen noch unbefriedigt fühlen. «Was aber», sagen sie vielleicht, «soll das?»

Nun, es geht um Literaturkompetenz. Sie kennen das sicherlich: Sie sind an einer Cocktailparty, und Sie möchten gerne dem Gastgeber ein Kompliment machen. «Eligius», sagen Sie, und fassen ihn sanft mit drei Fingerspitzen am Oberarm. «Eligius, du erscheinst mir heute wie das Simulacra eines jungen Jean-Paul Sartre.» Und dann werden Sie ausgelacht von den anderen Gästen, weil Sie offensichtlich nicht wissen, dass Simulacra ein Plural ist, und den Begriff generell nicht verstanden haben. Und der Gastgeber ist beleidigt, weil es wahrlich kein Kompliment ist, wie ein Jean-Paul Sartre auszusehen, auch wenn es ein junger ist. Sie sehen: Literaturkompetenz ist wichtig. Man macht sich so leicht lächerlich, wenn man über ungenügende verfügt. So wie Gränicher.

Die zweite Fehlleistung Gränichers ist es, dass gegenüber von Coco Chanels Zitat ein zweiter Slogan aufgehängt wurde: «Life isn’t perfect, but your outfit can be.» Wie dumm. Coco Chanel würde schallend lachen über so viel Dummheit. Sie würde lachen und lachen, bis die ganze Welt unter Krümeln von Kaviarhäppchen begraben wäre. Und dabei würde sie nichts sehen als eine perfekte Welt voller längst angebrochener Schönheit.

Ja, der Aphorismus ist eine Kunst. Und Kunst, das sagte schon Herder in einem Jahr, das mit einer Eins begann, kommt von Können.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Adrian Huerlimann
    Adrian Huerlimann, 19.05.2017, 17:22 Uhr

    Kunst kommt nicht von können, lieber Patrick Hegglin.
    Ein Wilh. Kufferath von Kendenich aus Trimbach schrieb dazu ein Buch:

    Das Buch zeigt auf, dass sich das Wort Kunst weder von können, noch von künden herleitet, es hat schon existiert, als die Wörter können und künden noch nicht in Gebrauch waren. Kunst hat sich im Altdeutschen aus dem Partizip zum Verb kunnan, das erkennen, wissen, kennen bedeutet, gebildet. Kunnan wiederum ist aus der indogermanischen Wortwurzel (außerhalb Deutschlands wird indogermanisch als indoeuropäisch bezeichnet) gen- bzw. gno- entstanden, dessen Bedeutung wissen, kennen, erkennen war und das sich nicht nur bis ins Altdeutsche durchgesetzt hat, sondern auch im Altgriechischen und Lateinischen und in deren Nachfolgesprachen anzutreffen ist. Ausführlich wird dargestellt, wie sich das altdeutsche Wort kunnan über Jahrhunderte hinweg zu den Begriffen können, kennen, künden, Kunde, kundig, kündigen, ferner Kunst, künstlerisch und künstlich hin entwickelt hat. In dieser Zeit verschob sich die inhaltliche Bedeutung des Wortes kunnan in seiner Wandlung zu können vom ursprünglichen Inhalt wissen immer stärker zum Begriff Befähigung durch Anwenden von Wissen = können hin. Während können ursprünglich, nämlich als kunnan, ausschließlich wissen bedeutete, liegt das Schwergewicht von können heute auf dem Sinn fähig sein. Sprachlich leitet sich das Wort Kunst aus den Begriffen kennen, wissen, erkennen ab, nicht aber von können oder künden, doch ist es mit letzteren beiden verwandt. Der Ausspruch „Kunst kommt von Können, und wenn man’s kann, ist es keine Kunst“ stammt vom österreichischen Mundartdichter Johann Nepomuk Nestroy, durch ihn ist die Meinung so nachhaltig verbreitet worden, dass das Wort Kunst von Können stamme. Der Autor des vorliegenden Buches räumt mit dieser Auffassung auf, Kunst kommt weder etymologisch, noch inhaltlich von Können. Er untersucht, ob es in den modernen romanischen und anderen germanischen Sprachen eine ähnliche Formulierung wie Kunst kommt von Können gibt und zeigt, dass den Menschen dieser Sprachen eine solche Denkungsweise, wie sie hinter der deutschen Formulierung steht, völlig fern liegt und als absurd empfunden wird, etymologisch wie inhaltlich. In einem Anhang wird die Verbreitung der alten Sprachen, die sich aus der indogermanischen Sprache gebildet haben, ausführlich dargestellt und verwandtschaftliche Beziehungen zwischen diesen Sprachen werden aufgezeigt. Weiters findet man eine Darstellung der Verbreitung der modernen Sprachen, die sich aus dem Indogermanischen ableiten.
    Zur etymologischen Entwicklung des Wortes Kunst in der deutschen Sprache, vergleichende Hinweise auf entsprechende Bezeichnungen in Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Latein und Altgriechisch, in übersichtlicher Weise didaktisch aufbereitet
    Für Lehr- und Studienzwecke wegen seiner Übersichtlichkeit besonders geeignet
    118 Seiten, 24 Schautafeln, Sachregister, Halbleinen, 21 cm x 21 cm,
    ISBN-Nr. 3-907048-01-6

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