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Über die Verdrängung der alten Generation

Filmschaffende: Hauptsache, jung

Zuger Filmschaffende sind vom Innerschweizer Filmförderpreis ausgeschlossen

 

(Bild: Fotolia)

Der Filmschaffende Edwin Beeler ist besorgt über die Entwicklung, dass junge Filmtalente die «alten» zu verdrängen versuchen. Er fragt nach dem Sinn «urbaner Relevanz» und zeigt auf, welche grossen Erfolge reife Regisseure in der Filmgeschichte bereits verzeichnen durften.

Mir fällt auf, dass einige wenige Filmjournalisten und -funktionäre in ihren Editorials und Blogs mit systematischer Regelmässigkeit einem krankhaft an­mu­tenden Jugend­wahn frönen. Sie fordern eine sogenannte Wachablösung unter den Filmschaffenden: Die «alten» Filmregisseure hätten abzutreten und den «jungen» Filmtalenten Platz zu machen. Gleichzeitig ertönt der Ruf nach Fil­men mit «urbaner Relevanz».

Was soll «urbane Relevanz»?

Soll also der Jahrgang der Regie führenden Person das Kriterium sein, ob ein Film gut oder weniger gut, mittelmässig oder schlecht, ein Meisterwerk oder Mainstreamkonfekt ist? Und wer bestimmt, welche Jahrgänge unter «alt» oder «jung» einzustufen sind? Und was heisst das, «urbane Relevanz»? Und wer bestimmt, was Talent ist und wer welches hat – oder auch nicht? Sollen Film­schaffende, die von selbst­er­nann­ten Autoritäten als «alt» selektioniert und ihrer Identität beraubt werden, möglichst freiwillig die Dienste von Exit beanspruchen?

Und: beginnt das «Urbane» vor den Toren Zürichs oder endet es bereits in Arth-Goldau? Ist ein Film, der die Mühsal des Älplerlebens ohne Roman­ti­sierung thematisiert – wenn beispielsweise Städter im Sommer z Alp fahren – von «urbaner Rele­vanz»? Ist ein in – sagen wir – New York spielender Actionflm von «urbaner Relevanz»? Ist ein Regisseur aus Basel wertvoller als einer aus – sagen wir – Rap­perswil? Und ist ein 40-jähriger Filmschaffender alt und sollte abtreten, oder darf er weiterarbeiten, bis er – sagen wir – 60 Jahre alt ist?

Filmschaffende 60+ werden verdrängt

Damit werden Filme von reifen Filmschaffenden ins Abseits gestellt, von Film­schaffenden, deren Lebenserfahrung in ihren Werken entsprechend Ausdruck findet und die ihre Filmsprache laufend weiterentwickeln. Richard Dindo beispielsweise berichtet von seiner Erfahrung mit der Zürcher Filmförderung, wel­cher er sein Projekt, Max Frischs «Homo Faber» zu verfilmen, vorstellt. Ein Kom­missionsmitglied fragte ihn: «Richard, wie stellst du dir eigentlich vor, in deinem Alter ein 20-jähriges Mädchen filmen zu können?»

Dindo äussert sich auf seiner Webseite «zu dieser doch sehr eigentümlichen Frage zu meinem Alter und zum Problem, ob die über 60-Jährigen in der Schweiz noch weiter Filme machen dürfen, wenn sie wollen und sich dazu imstande fühlen. Es gehört zum Privileg der Kulturschaffenden, dass wir nie aufhören, kreativ zu sein, dass man bis ans Ende seines Lebens Bücher schreiben, Bilder malen, musizieren und Filme machen kann. Die Kulturgeschichte ist voll von Beispielen davon. Picasso sagte einmal, als er schon fast 90 war, dass er erst daran sei, sich an etwas anzunähern und etwas zu beginnen. Der Japaner Hokusai, zitiert von Henry Miller, fand, dass er erst ab 60 ver­stan­den habe, was Malerei eigentlich ist. Ein Biograf von Voltaire schrieb, dass dieser erst ab 65 in den Vollbesitz seines intellektuellen Potenzials gekommen sei, und André Malraux fand, dass man erst ab 60 langsam anfange, ein Mensch zu werden».

«Nicht gegen die Jugend, sondern für das Alter.»

Dindo argumentiert auch mit Regisseuren wie Joris Ivens: «Einer der grössten Dokumentaristen des 20. Jahrhunderts, der mit 94 in China, zusammen mit seiner Frau Marceline Loridan, ‹Die Geschichte des Windes› drehte.» Dindo hält ihn für Ivens schönsten Film. Und er argumentiert damit «nicht gegen die Jugend, sondern für das Alter».

Es gehe bei den Kulturschaffenden doch im Wesentlichen darum, ein Leben lang, von jungen Jahren an, unaufhörlich und unermüdlich an einem Werk zu arbeiten, und dabei geschehe es manchmal, dass man von einem bestimmten, nicht voraussehbaren Moment an, in die Phase einer geradezu traumwandlerischen Sicherheit komme, wo man sich sehr stark fühle, und wo man die definitive Gewissheit bekomme, dass man daran ist, sein Lebenswerk zu vollenden, was einen in gewissen Augen­blicken mit einer Art Genugtuung erfülle, diese Selbstsicherheit und Gewiss­heit, das richtige Leben geführt und sein Schicksal so gut wie möglich erfüllt zu haben.

Die Strategie des Lebenswerkes

Genau wie in allen anderen Kunstsparten geht es gemäss Dindo – ich zitiere ihn so ausführlich, weil er es so schön kurz auf den Punkt bringt –  auch bei der siebten Kunst um die Strategie, «ein Lebenswerk herstellen zu können». Es geht darum, sich ständig künstlerisch und als fühlender, denkender Mensch weiterentwickeln zu können.

«Kein Literaturkritiker hätte geschrieben, Dürrenmatt sei zu alt.»

Wäre denn das Spätwerk des reifen Chaplin, bei­spielsweise der Film «Limelight», den er mit 63 Jahren gedreht und in dem er die Rolle des alten Clowns Calvero gespielt hat, ohne seine vorangegangenen Werke und die Entwicklung der Figur des «Tramp» möglich gewesen? Undenk­bar. Dasselbe gilt für Hitchcocks reife Phase: als 60-Jähriger dreht er «North by Northwest», mit 64 dreht er «The Birds». Und um in der Schweiz zu bleiben: Fredi Murers an der Kinokasse erfolgreichster Film, «Vitus», entsteht 2005. Da ist Murer bereits ins AHV-Alter eingetreten.

Grosse Erfolge im Rentenalter

Man könnte den Jugendlich­keits­wahn auch auf die Filmtechniker ausdehnen: Ein Kameramann wie Pio Corradi, Jahrgang 1940, hätte jung-dynamisch-urban-innovativen Kameraleu­ten Platz zu machen, den Erfolgsfilm «Giovanni Segantini – Magie des Lichts» hätte er nicht mehr fotografieren dürfen – das Know-how und die Erfah­rung eines 75-Jährigen, seit 10 Jahren AHV-Bezüger, würden nichts mehr gelten: Hauptsache, jung.

«Ich würde im absurden Umkehrschluss sagen, dass erst Film­journalist werden darf, wer mindestens 70 Jahre alt ist.»

Mir ist nicht bekannt, dass ein Musikkritiker geschrieben hätte, betagte Diri­gen­ten wie Claudio Abbado oder Rafael Kubelik hätten gefälligst jüngeren Diri­genten Platz zu machen, und die Musik hätte von «urbaner Relevanz» zu sein. Ich kenne auch keinen Literaturkritiker, der geschrieben hätte, Dürrenmatt sei zu alt, um anlässlich des Besuchs des tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Havel seine Rede «Die Schweiz als Gefängnis» zu halten, geschweige denn, dass das auf dem Lande im Kanton Neuenburg geschriebene Dürrenmattsche Werk nicht von «urbaner Relevanz» sei. Und wie ist es denn mit den Rolling Stones? Von der Bühne abtreten, Exit?

Ich würde deshalb im absurden Umkehrschluss eher sagen, dass erst Film­journalist werden darf, wer mindestens 70 Jahre alt ist und damit über eine gewisse filmrezeptive Reife und über ein umfassendes filmhistorisches Ge­dächtnis verfügt.

Umso mehr freue ich mich, Filmkritiken zu lesen, die sich am Alters­werk des 80-jährigen britischen Filmemachers Ken Loach erfreuen, am 2016 in Cannes mit der Goldenen Palme prämierten Film «I, Daniel Blake» etwa.

Es lebe die Vielfalt von Filmen von Filmschaffenden aller Generationen aus urbanen Zentren oder dynamischen Dörfern.

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