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Mario Wälti

Das Konzept des Longplayers: Kult oder Käse?

Eine gute Platte enthält nicht jede kurzfristige Idee – man lässt einen grossen Gedanken Vater des ganzen Projekts werden.

(Bild: Søren Astrup Jørgensen)

Ist das Albumformat zu Zeiten von Playlists und Musik-Streaming überhaupt noch berechtigt? In Zeiten, zu denen Musik grösstenteils nicht mehr gekauft, sondern gestreamt wird, und zu denen die Konsumenten Musik immer mehr in genreübergreifenden, heterogenen Playlists anhören, ist das eine legitime Frage.

Tatsächlich: Die Legitimation vieler kontemporärer Alben besteht alleine in ein oder zwei Radiosingles – diese Alben sind ein reines Promotool für diese ein oder zwei Songs, quasi die Schachtel, in der der Diamant steckt. Daneben gibt es aber immer noch diejenigen Alben, die (nur) als Ganzes ihre Berechtigung haben, deren kultureller Impact und musikalischer Einfluss sich erst in ihrem Gesamtwerk erschöpft – Alben, bei denen die Schachtel der Diamant ist. Der Autor versucht sich an einer Analyse zweier solcher Alben – und deren Erfolgskonzepte – und erläutert, wie Innerschweizer Musiker bei diesem Vergleich abschneiden.

Singles Carry Albums …

Rückblende, Februar 2017: Der wunderbare Future, Südstaatenrapper der Klasse Überkönig, veröffentlicht innerhalb von sieben Tagen zwei Alben à je 15+ Songs. Der grösste Teil davon ist höchst vernachlässigbar – hat man alles schon mindestens fünfmal gehört – aber ein Song namens «Mask Off» entwickelt sich zum Überhit. Vergessen ist all der Restmüll auf den beiden Platten, «Mask Off» wird in allen Clubs zwischen Seattle und Miami und sämtlichen Radiostationen rauf und runter gespielt.

Was die Alben sonst zu bieten hatten, verkam sofort zur absoluten Nebensache. Das Konzept ist keineswegs exklusiv – sehr viele Popalben der heutigen Zeit leben davon, dass die darauf enthaltenen Radiosingles die Highlights eines ansonsten mehr oder weniger relevanten Albumkatalogs darstellen. In extremis führt dies dazu, dass man für die Produktion dieser ein oder zwei Singles auf die Hilfe renommierter(er) Songwriter und Produzenten zurückgreift (und also schon auf die Erstellung dieser Songs ein grösseres Budget alloziert), während der Rest des Albums von vergleichsweise unbekannten Machern erstellt wird.

Future befindet sich also in bester Gesellschaft, und das Konzept funktioniert: Im (amerikanischen) Radio und im Club wollen alle «Mask off» hören, für den Rest interessiert sich niemand.

… vs. Albums Carry Themselves

Fast forward zu letztem Freitag: Jay-Zs neuestes Album namens «4:44» ist erschienen, ein Werk, das ohne offensichtliche Radiosingle oder für die Tanzfläche gezimmerte Songs aufwartet, das aber (eventuell gerade deshalb) das beste Jay-Z-Album der letzten ca. sechs Jahre verkörpert. Vor nicht allzu langer Zeit hat ausserdem Rap-Wunderkind Kendrick Lamar sein neues Werk «DAMN.» veröffentlicht, welches ebenfalls eine eher intellektuelle, textbezogene Schiene fährt und welches sich (trotzdem? gerade deswegen?) sehr gut verkaufte. Was haben diese beiden Platten, die in ihrem Aufbau quasi antizyklisch angelegt sind, für Gemeinsamkeiten?

Kohärenz vor Varianz

Sowohl Jay-Zs neuestes Werk als auch «DAMN.» von Kendrick Lamar glänzen mit einer klug ausgewählten, abgerundeten Tracklist, die vor allem eines aufweist: Kohärenz. Das Kendrick-Album folgt, von der Benennung der einzelnen Songs bis zu seiner musikalischen Unterlegung, einem klaren roten Faden, der sich im lyrischen Aufbau des Albums wiederfindet. Jay-Zs «4:44» steht dem in nichts nach: Sowohl thematisch als auch musikalisch wurde ein Plan entworfen und dann kompromisslos verfolgt – es gibt keine Nebenschauplätze, keine Ausflüge, darum wohl auch keine eigentlichen Radiosongs.

Lyrics: Ein sehr gutes Konzept ist besser als viele gute Konzepte

In einem wunderbaren Interview sagte No I.D., der alleinige Produzent von «4:44», er habe darauf hingearbeitet, dass Jay-Z auf seinem neuen Album nur Dinge erzähle, die er auf seinen bisherigen zwölf Studioalben noch nicht gesagt habe (und bei zwölf Studioalben bleibt da wenig übrig). Kendrick Lamar setzt auf «DAMN.» den lyrischen Weg fort, den er bereits auf seinen beiden Vorgängeralben eingeschlagen hat, aber er wiederholt denselben nicht.

Man verzichtet auf Vielfalt, nimmt nicht jede momentane, kurzfristige Idee auf die Platte, sondern lässt einen grossen Gedanken Vater des ganzen Projekts werden. Auch das sorgt für gedankliche, lyrische Kohärenz. Es ist wie bei einer Präsentation mit Powerpoint-Folien – packt man die Folien zu voll, verliert der Zuhörer den Überblick. Die Message muss klar und erfassbar bleiben.

Produktionen: Zu viele Köche verderben den Brei

Die oben erwähnte Kohärenz lässt sich quantitativ belegen – sowohl für Kendricks «DAMN.» als auch für Jay-Zs «4:44» waren nur wenige Produzenten am Werk, im ersteren Fall ein seit Jahren eingespieltes Team, im zweiten Fall sogar nur ein einziger Produzent. Zumindest in diesen beiden Fällen ist offensichtlich bewusst darauf verzichtet worden, ein allgemeinkompatibles Album zusammenzuwürfeln, auf dem man jeden Stil bedienen wollte. Lieber setzt man auf Kontinuität und entwickelt ein eigenes, einheitliches Tonbild und eine einheitliche Sprache, als dass man quasi multilingual in verschiedene Richtungen rennt.

Innerschweizer Überflieger Mimiks und Marash & Dave verfolgten eine ähnliche Richtung wie Jay-Z und Kendrick Lamar.

Eine ähnliche Richtung verfolgten auch die Innerschweizer Überflieger Mimiks und Marash & Dave auf ihren jeweiligen Alben: Obwohl von einer Vielzahl von Produzenten zusammengestellt, verliessen sich beide Künstler zumindest gegen Ende des Erstellungsprozesses auf einzelne Executive Producers, die den Gesamtkatalog der jeweiligen Alben nochmals einer gemeinsamen Retusche unterzogen. Auch hier hört man das am Resultat: Wenngleich sich die Alben durchaus vieler verschiedener Hip-Hop-Stilrichtungen bedient, ist eine gemeinsame Soundästhetik auf jeden Fall hörbar.

Audienz: Anspruch und Bereitschaft

Auffällig ist, dass sich sowohl Jay-Z als auch Kendrick Lamar solche Alben, wie sie sie gerade vorgelegt haben, leisten können – ihr Publikum ist gross und loyal, die Erwartungshaltungen für neue Platten jeweils hoch. Das Risiko, das die beiden Künstler mit Alben fernab von Radio-Songs und Tanzflächenwundern eingehen, ist – eventuell auch im Gegensatz zu anderen Künstlern – überschaubar.

Hinzu kommt, dass beide Künstler über ihre Alben komplette kreative Freiheit haben: Kendrick Lamar steht mit Top Dawg Entertainment bei einem Independent unter Vertrag, Jay-Z ist quasi ohne Label unterwegs. Da gibt es keine Vorgaben, keine fremdgesteuerten Businesspläne, keine Executives, die nach Abgabe des Albums «noch was fürs Radio» verlangen. Und daneben gibt es ein Publikum, das die Sachen hört und feiert. Das ist (aus Business-Sicht) dann doch das Wichtigste.

Fazit: Weniger ist oftmals mehr

Aus dem oben Stehenden wird ersichtlich: Künstler, welche sich in ihrer Schaffensbreite einschränken, welche eine klare, kohärente Linie verfolgen und diese mit wenigen Leuten in vergleichsweise kleinen Teams umsetzen, am besten abgeschnitten von Ausseneinflüssen, erschaffen im Schnitt bessere Platten – Platten, bei denen das Konzept des Longplayers zur Geltung kommen kann. Wenn es darum geht, gute Alben (und nicht gute Einzelsongs) zu erschaffen, dann ist weniger oftmals mehr.

Und wenn gute Künstler gute Alben machen, dann verkaufen sich diese auch noch, trotz fehlender Singles fürs Radio und für die Playlists von Spotify und Konsorten. Das alleine sollte eigentlich denjenigen Künstlern, die an sich selbst den Anspruch haben, gute Künstler zu sein, dazu ermuntern, weiterhin intensiv am Longplayer-Konzept festzuhalten. Der Begriff des «Klassikers» ist wohl immer noch nur für solche Alben reserviert.

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