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Über die Verantwortung der Medien

Warum dir zentralplus gewisse Dinge verschweigt

Unser Job wird dann schwer, wenn wir über menschliche Krisen berichten müssen. (Bild: PLu)

Ein Polizeieinsatz mitten in der Stadt Luzern! Ein weisses Zelt wird aufgestellt, Ermittler sind vor Ort, der Bestatter fährt seinen Leichenwagen auf den Platz. Klar: es interessiert jeden, was da wohl Schlimmes passiert ist. Aber auf zentralplus wird kein Wort darüber verloren. Schlafen wir oder sind wir schlechte Journalisten?

Erlaubt mir schon zu Beginn einige persönliche Worte. Ich bin unterdessen seit 16 Jahren «Journi». Erst beim Radio und nun schreibend. An diesem Text habe ich echt ein bisschen zu beissen. Es fällt mir für einmal nicht leicht, die Worte zu finden.

Also sage ich es gleich direkt heraus: In den folgenden Zeilen geht es um das Thema Suizid – und darum, wie die Medien damit umgehen. Wenn du dich im Moment nicht mit solch schwerer Kost konfrontieren willst, vertage es auf später. Ganz unten findest du zudem hilfreiche Links, die dich unterstützen können, wenn du dich nicht gut fühlst.

Ich wurde in meinem Leben wiederholt mit dem Thema konfrontiert. Sei es als «First Responder» (was dies genau ist, erfährst du hier), als Angehöriger der Feuerwehr und auch schlicht als Privatperson.

Darum schreiben wir an dieser Stelle über das Thema

Vor einigen Wochen passierte es mitten in der Stadt Luzern. Uns wird von Leserreportern ein Polizeieinsatz gemeldet. Ein weisses Zelt stehe da und es müsse etwas Schlimmes passiert sein. Wir berichteten, nachdem die Polizei uns einen «aussergewöhnlichen Todesfall in der Stadt Luzern (AGT)» bestätigt hatte.

Was bedeutet diese kryptische Formulierung? Die Bandbreite ist riesig! Es ist ein AGT, wenn ein junger, gesunder Mensch plötzlich unerwartet verstirbt. Auch Gewaltverbrechen oder medizinische Behandlungsfehler sind typische Fälle. Im rechtsmedizinischen Lexikon steht, es sei ein «Todesfall, der bei der ärztlichen Leichenschau nicht mit hinreichender Sicherheit auf ein natürliches Geschehen zurückgeführt werden kann».

Wenn ein Todesfall als AGT eingeschätzt wird, geht sozusagen das «ganzi Rösslispiel» los. Polizei, Notarzt, Rettungssanitäter, die Staatsanwaltschaft und eben der Bestatter kommen vor Ort. Ein solcher Aufmarsch zieht viel Aufmerksamkeit auf sich.

«Gute Journalisten gehen ins Detail und erzählen spannungsvolle, emotionale Geschichten. Bei der Suizidberichterstattung kann das tödlich sein. Ich bin im Zweifelsfall für das Leben.»

Sylvia Oehninger, Journalistin und Informationsbeauftragte Pro Mente Sana

Wir haben über den AGT in der Stadt Luzern berichtet, weil viele Menschen mitbekommen haben, dass da ein Polizeieinsatz lief. Und weil wir die Menschen darüber informieren wollten, was da los war. Der Beitrag stiess auf reges Interesse bei unserer Leserschaft. Doch tags darauf haben wir den Beitrag von der Seite genommen. Warum? Wir sagen es dir gleich. Zuerst wollen wir dir aufzeigen, wie wichtig ein vorsichtiger Umgang der Medien mit dieser Thematik ist.

Eine falsche Berichterstattung kann katastrophale Folgen haben

Weltweit gibt es viele Untersuchungen darüber, welchen Einfluss Medienberichte auf suizidales Verhalten haben. Es zeigt sich klar: Eine unsachgemässe Berichterstattung löst bei vielen Menschen negative Gedanken aus.

Als beispielsweise in New York das Buch «Final Exit» herausgekommen ist, gab es eine klare Steigerung der Suizide mit den im Buch beschriebenen Methoden. Ein weiteres Beispiel kommt aus Deutschland. In den 80er-Jahren zeigt das ZDF die Fernsehserie «Tod eines Schülers». Eine Studie zeigte auf, dass die Suizidhäufigkeit bei 15- bis 19-jährigen männlichen Jugendlichen in den ersten 70 Tagen nach der Sendung um 175 Prozent angestiegen ist.

Kommen wir nun zurück zu dem aktuellen Fall in der Stadt Luzern. Wir haben bei der Polizei nachgefragt, was da genau passiert ist. Allerdings hat uns die Polizei nicht schon bei der ersten Anfrage offen kommuniziert, dass es sich in bei diesem AGT um einen Suizid handelt – was auch bei der Polizei im Nachgang Selbstkritik auslöste. Denn: Hätten wir diese Information von Anfang an bekommen, hättest du bei uns nie dieses Bild von dem weissen Zelt in der Stadt Luzern gesehen.

Verantwortungsvoller Journalismus

Was mich persönlich betroffen macht: Ein anderes Medium liess seinen Artikel über den Suizid in der Stadt Luzern auch nach der offenen Kommunikation der Polizei weiter online (mit der Ergänzung, dass sich da jemand das Leben genommen hat). Für Menschen in einer schweren Lebenssituation oder auch für die Angehörigen muss sich das anfühlen wie eine Faust ins Gesicht. Nicht zuletzt gibt es daher auch den Pressekodex. Der Schweizer Presserat gibt diese Richtlinie vor:

Richtlinie 7.9 – Suizid
In allen Fällen beschränkt sich die Berichterstattung auf die für das Verständnis des Suizids notwendigen Angaben und darf keine intimen oder gar herabsetzenden Einzelheiten enthalten. Um das Risiko von Nachahmungstaten zu vermeiden, verzichten Journalistinnen und Journalisten auf detaillierte, präzise Angaben über angewendete Methoden und Mittel.

Klar schreibt der Presserat auch, dass wir über Suizide unter anderem dann berichten dürfen, wenn sie grosses öffentliches Aufsehen erregen. Allerdings hätte dieser konkrete Fall wohl gar kein Aufsehen erregt, wenn wir Medien nicht über den AGT berichtet hätten. Es ist aus meiner Sicht ein «No-Go», noch immer darüber zu berichten, nachdem klar war, was passiert ist.

Schon einige Tage zuvor gab es einen Fall im Wahlkreis Entlebuch. In einer Gemeinde hatte sich eine Person auf öffentlichem Grund das Leben genommen. Schulkinder haben leider auch den Leichnam gesehen. Die Kollegen, die beim erwähnten Medium arbeiten, haben ausführlich berichtet, den Artikel sogar «gepusht».

Mir läuft es kalt den Rücken runter, wenn ich mir ausmale, was diese intensive Berichterstattung mit den Betroffenen gemacht hat. Welchen Preis zahlen sie für die Klicks eines Medienunternehmens? Einige Leute wurden durch die Berichterstattung belastet. Die detailgenaue Schilderung war schwer zu ertragen. Bei zentralplus haben wir in diesem Fall komplett auf eine Berichterstattung verzichtet.

Wie sollten Medien mit dem Thema umgehen?

Es gibt diverse Hilfestellungen für uns Medienschaffende, wie das Thema angemessen angepackt werden kann. Ipsilon, die Initiative zur Prävention von Suizid in der Schweiz, hat beispielsweise einen guten Leitfaden herausgegeben. Schon das Zitat auf der zweiten Seite spricht Bände. Sylvia Oehninger, Journalistin und Informationsbeauftragte Pro Mente Sana, sagt: «Gute Journalisten gehen ins Detail und erzählen spannungsvolle, emotionale Geschichten. Bei der Suizidberichterstattung kann das tödlich sein. Ich bin im Zweifelsfall für das Leben!»

Wir haben in der Redaktion lange über das Thema gesprochen. Hätten wir ausführlich berichtet, die Klickzahlen, die uns den Lohn und das Überleben sichern, wären definitiv höher gewesen. Ich persönlich bin sehr froh, dass wir in der Sache alle gleich denken. Wir verzichten.

Hier bekommst du Hilfe

Dir geht es momentan nicht gut, eine persönliche Krise wächst dir über den Kopf? In der Schweiz gibt es zahlreiche Stellen, die dir helfen. Für dich ist rund um die Uhr jemand da. Und zwar vertraulich und kostenlos.

Bist du ein Angehöriger? Hier findest du Menschen, die dir helfen können:

  • Nebelmeer.net. Ein Zusammenschluss von jungen Menschen, welche einen Elternteil oder ein Geschwister durch einen Suizid verloren haben.
  • Verein Refugium. Wer einen geliebten Menschen durch Suizid oder durch Organisationen für begleiteten Suizid verloren hat, soll dort laut Verein einen Zufluchtsort vorfinden.
  • Verein Regenbogen. Du hast dein Kind verloren? Der Verein informiert und begleiten betroffene Eltern und ihre Angehörige nach dem Tod eines Kindes.
Verwendete Quellen
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Roli Greter
    Roli Greter, 18.05.2022, 21:41 Uhr

    Spannendes Thema. Ich kann mich an die Berichterstattung und und die daraus entstandene Diskussion erinnern nachdem sich Anfang der Neunziger eine Littauer Pfarrerin für den Freitod entschieden hatte. Aus meiner Sicht gibt es da keine falsche oder richtige Berichterstattung.

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