inside zentralplus
Blog
Zu den Auswüchsen journalistischer Pflichten

Ich schick’s Ihnen noch zum Gegenlesen!

Seriöse Arbeit auf der Redaktion. (Bild: jav)

Was man im Interview mit einer Journalistin sagt, darf man durchlesen und allenfalls korrigieren. Das hat sich in der Schweiz so entwickelt. Oft jedoch würde man das als Journalistin nur zu gerne vergessen.

Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Wand gebaut. Das Material wurde Ihnen dafür zur Verfügung gestellt, die Wand sieht super aus und steht grundsolide. Nun aber kommt die Person, die ihnen die Steine lieferte, und will nun die Hälfte davon zurück.

Ein weiterer Viertel soll durch runde Steine ersetzt werden und ein anderer Viertel ist aus ihrer Sicht schlicht nicht am richtigen Ort verbaut. Dann hat die Person auch noch etwas am Mörtel auszusetzen und entfernt eigenhändig gleich noch das eingebaute Fenster. Wohlgemerkt hat diese Person weder Erfahrungen als Maurerin, noch ist es ihr Haus.

Hört sich seltsam an? Passiert so aber tatsächlich recht oft beim Schreiben journalistischer Artikel – nicht beim Bau von Wänden hoffentlich.

In diesem Text geht es ums «Gegenlesen». Ein wichtiger Punkt im journalistischen Schaffen und ein Punkt, der in Redaktionen nicht selten zu wildem Gestikulieren und gar wüsten Flüchen führt.

Geschwurbel statt Pointen

Das Gegenlesen ist in der Schweiz im Journalismus inzwischen Usus. Das bedeutet, dass Sie, wenn Sie in einem Artikel zitiert werden, ihre Aussagen vor der Publikation nochmals durchlesen und anpassen dürfen. Oft wird in diesem Rahmen eine Zahl korrigiert, die nicht korrekt aus dem Gedächtnis widergegeben wurde, eine vergessene Person ergänzt, eine Aussage präzisiert. So weit, so gut.

Diese Möglichkeit jedoch nimmt in den letzten Jahren zunehmend abstruse Auswüchse an. Texte und Antworten müssen mittlerweile oft von einer Kommunikationsabteilung autorisiert werden. Den Wächtern der wohlwollenden Aussen-Wahrnehmung, den Hütern der heiklen Hintergründe. Diese verstehen Interviews und Artikel mittlerweile eher als «Vorlage», in die nach Belieben eingegriffen werden darf – teilweise sogar ohne rückverfolgbare Überprüfen-Funktion.

Überarbeitung eigener schriftlicher Aussagen

So werden gemachte, griffige Aussagen dann nicht selten durch inhaltsleeres Geschwurbel ersetzt. Ganze Passagen werden zurückgezogen. Eine witzige Geschichte von einem vor Wut schäumenden Beamten wird ersetzt durch: «Da kann es unter Umständen vorkommen, dass Personen nicht vollständig zufrieden sind.» Da kann man die Geschichte gleich ganz sein lassen.

Sätze werden grammatikalisch und stilistisch umgeschrieben, teilweise auch Beobachtungen der Journalistin gestrichen, Fragen in Interviews umformuliert. Ganz wild: Personen wollen gar ihre eigenhändig schriftlich verfassten Antworten nochmals gegenlesen. Oder Leute behaupten, sie hätten Sätze nie gesagt. Auch wenn bei einem erneuten Durchhören der Audioaufnahme das Gegenteil bestätigt wird.

Das alles macht massiv viel Arbeit. Es macht Texte schlechter. Und es untergräbt die vierte Gewalt.

So läuft das nicht

Ursprünglich hatte das «Absegnen» den Zweck, Unpräzises, falsch Verstandenes oder auch unschön Schweizerdeutsches, zu präzisieren, gleichzeitig aber möglichst den Stil und die Sprache des Gegenübers wiederzugeben. Und tatsächlich ist das «Gegenlesen» eine Schweizerische Eigenheit. In den USA, allgemein im englischsprachigen Raum, auch in Deutschland ist es unüblich. Dort werden Interviewpartner in der Regel mit genau den Worten zitiert, die sie gewählt haben.

Ein Wort ist ein Wort.

Wenn Sie einer Journalistin in einer Interview-Situation Dinge erzählen, die wichtig für eine Geschichte sind, und davor kein «Das gehört jetzt nicht in den Text», oder «Das sag ich vertraulich», oder «Das ist jetzt off the record» setzen, dann können Sie das nicht einfach wieder ungeschehen machen.

Wir sind kein persönliches Werbebüro. Und wir sind auch nicht Ihre besten Freundinnen. Wir sind aber auch keine Bösewichte, die die Welt aus den Fugen werfen wollen und auf den kleinsten Fehler warten, um das Gegenüber dem nächsten geifernden Shitstorm vorzuwerfen.

Wie es sein sollte

Doch dann, ganz selten, kommt es zum Ausnahmefall. Plötzlich ist da ein Mensch, den ich porträtiere, der will nicht gegenlesen. Nichts. Ein Mensch, der mich zu sich nach Hause einlud, mir von seinen Tiefen, seine Lieben, seinen Wünschen und seinen Ängsten erzählte.

Selten habe ich so vorsichtig jedes einzelne Wort abgewogen.  

inside zentralplus
Blog
Bei inside zentralplus geben wir euch regelmässig Einblicke in unsere Arbeit. Was beschäftigt uns, wie arbeiten wir, wie gehen wir mit Fehlern um, und wo wir Deine Unterstützung benötigen.
Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


5 Kommentare
  • Profilfoto von Holger Braun
    Holger Braun, 07.04.2023, 20:43 Uhr

    Nun ja, Gegenlesen von Interviews ist auch in Deutschland üblich, bzw. Die Fragen werden vorab zugesandt.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von Martin Bienlein, Blaues Kreuz Schweiz
    Martin Bienlein, Blaues Kreuz Schweiz, 13.12.2022, 16:15 Uhr

    Für mich als Mediensprecher eines Verbandes gibt es drei Ergänzungen:
    – Leider sprechen wir nicht immer so schön, wie wir schreiben. Deswegen sind Glättungen und Ergänzungen sinnvoll.
    – Wenn schon ein Interview abgedruckt wird, dann bitte das Ganze. Aber Journalistinnen und Journalisten picken raus, was sie wollen. Da sind Ergänzungen nur rechtens, damit der Sinn und die Botschaft nicht zu stark verkürzt oder abgewandelt wird.
    – So gut und schön sind nicht alle Mauern gebaut. Manchmal tun neue Steine gut.
    Ich honoriere die Arbeit der Journalistinnen und Journalisten, aber greife trotzdem ab und zu ein. In Massen sollte die Zusammenarbeit klappen.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von Sara Blaser
    Sara Blaser, 13.12.2022, 16:05 Uhr

    Interessant ist auch, wie die Interviewten ihre Korrekturen ankündigen. Ich kenne vorallem zwei Typen: Typ «Bitte entschuldigen Sie, ich habe noch einige Stellen geändert», der zwei Adjektive austauscht, und Typ «Ich hatte noch klitzekleine Änderungen», der den ganzen Artikel neu schreibt.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von mebinger
    mebinger, 09.11.2022, 17:51 Uhr

    Bis jetzt habe ich schon nach zwei oder drei Fragen gemerkt, ob ich den Bericht zuerst gegen lesen muss. Die Fragestellung verrät alles über den Journalisten. Ich habe zudem noch nie die Fragen vor einem Interview hören wollen. So vergeht jede Spontanität umgekehrt habe ich als Journalist auch nie Fragen vorbereitet. Nur die erste Frage muss vorbereitet werden, dann hat man zu zu hören. Leider beherrsche nur Wenige diese Technik, was man vor allem am Radio und Fernsehen merkt

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von Roger Levy
    Roger Levy, 09.11.2022, 14:02 Uhr

    Noch schlimmer kann es beim Fotografieren oder Filmen werden. Vor dem InternetZeitalter hatten die Porträtierten noch Freude an Aufnahmen jeglicher Art. Heute haben sie Angst vor einem Shitstorm im Netz oder so…
    Wenn ich zurückdenke, gab es viele wunderbare Momente aber auch solche, die meinen Entschluss zur Pensionierung bekräftigen «lach».

    👍1Gefällt mir👏0Applaus🤔1Nachdenklich👎0Daumen runter
Apple Store IconGoogle Play Store Icon