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Musikalisches Missverständnis im Zugabteil

Wie mein singender Sohn eine US-amerikanische Familie verschreckt hat

Nein, so glamourös wie auf diesem Bild war die Realität im Zugabteil nicht. (Bild: Adobe Stock (KI-generiert))

Wie eine Zugfahrt mich lehrte, dass der Text eines Liedes mehr als nur eine Melodie ist. Auch wenn man ihn nicht versteht.

Es gibt diese Playlists im Leben. Sie passen perfekt zum Herzschmerz in der Pubertät. Oder zu Roadtrips, wo sie rauf und runter gebrüllt wurden. Heute singe ich sie zum Einschlafen mit den Kindern – oder wir grölen sie zusammen beim Herumalbern, während die Nachbarn ganz «zufällig» den Müll rausbringen.

Ich glaube, ich habe sehr viele solcher Listen. Deutsche Lieder. Folk. Mundart. Rock. Klassiker. Doch heute gehts um meine Playlist namens «All-Time Favorite Dad Songs in English»: eine wilde Mischung aus Folk und Rock, mit Texten, die meine Kinder weder verstehen noch brauchen. Englisch ist für sie nur eine Melodie.

Kauderwelsch-Singsang im Zug

Gross Gedanken habe ich mir dazu nie gemacht. Bis zum vergangenen Wochenende: Gotthard-Zug. Irgendwo zwischen Airolo und Erstfeld. Wir zu viert – Eltern, Emil und Elisa – und eine US-amerikanische Familie mit Neugeborenem hinter uns. Elisa (anderthalb) zeigte sogleich auf die Familie: «Da! Baby!» Emil (dreieinhalb) hatte sich bereits zu den Amerikanern verirrt. Sprachbarriere? Kein Problem. Blickkontakt, Lachen und – natürlich – die Beatles.

Emil bot sein Meisterwerk dar: «Yellow Submarine» im reinsten Kauderwelsch-Singsang. Die Amerikaner applaudierten und grölten mit – wer braucht schon Textverständnis?

Was folgte, war eine Zugsession von Emil meiner «All-Time Favorites in English»-Playlist: Erst «Bye Bye Miss American Pie», dann «Country Roads». Bereits bei «Almost heaven …» glänzten die Augen der Eltern – sie kamen tatsächlich aus West Virginia. Selbst ihr schlafender Säugling schien mit den Füssen im Takt zu wippen.

Gesangliches Missverständnis

Dann passierte es: Emil stimmte «Delia’s Gone» an – Johnny Cashs Ballade über einen Femizid. Die Mutter erstarrte. Ihr Lächeln schien zu gefrieren. Und ich verstand: Während mein Sohn einfach eine coole Melodie grölt, hört sie einen Text über Gewalt gegen Frauen.

Ein unbequemes Schweigen. Dann das Gespräch: Sie mochten den Song, erklärten aber, ihn nie mit ihrem Kind zu singen. Eine simple Entscheidung mit Tiefenwirkung: Wer singt, trägt Verantwortung. Denn nicht alle hören nur die Melodie.

Diese einfache Entscheidung der Eltern blieb mir im Kopf hängen. Nicht als Vorwurf, sondern als Frage: Welche Lieder gebe ich eigentlich an meine Kinder weiter? Und werde ich mir eines Tages anhören müssen: «Papi, wie konntest du uns das vorsingen?» 

Emil hat alles im Griff

Doch Emil liess mich nicht lange grübeln. Mit einem entschlossenen «Überem Gotthard flüged Brähme!» inszenierte er die perfekte Ablenkung. Die Amerikaner klatschten, das Baby schlief sogar ein – und ich merkte: Manchmal lösen Kinder mit einem Lied genau das, worüber wir als Eltern viel zu lange nachdenken.

Und vielleicht ist Elternsein genau das: Man singt drauflos, reflektiert zwischendurch – und hofft einfach, dass die Kinder und die Zeit später milde urteilen. Und falls Emil mir später mal zu heftige Vorwürfe macht, erinnere ich ihn einfach daran, dass er derjenige war, der Johnny Cashs «Murder Ballads» im Zug performt hat. Das ist nur fair.

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Kinder: Neun Monate sehnt man sie herbei und dann machen sie einen Haufen Arbeit. Und bestimmen ab sofort Mamis und Papis Leben. Fünf Mütter und ein Vater schreiben über ihren Alltag mit dem Familienzuwachs. Von Herausforderungen, Veränderungen, Ängsten und Freuden.
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