Eltern
Blog
Helfersyndrom dank Mami-Hormon

Wie ich zum Sensibelchen mutiere

Seit der Nachwuchs da ist, spielen die Hormone verrückt und die Welt scheint plötzlich schrecklich gemein. Und manchmal sogar das Kind.

(Bild: jav)

Eigentlich mag ich keine Hunde. Doch plötzlich stürze ich ins Geschäft, um die Strassenmischung eines Bettlers mit Futter zu versorgen. Was ist passiert? Mit der Geburt stieg meine Sensibilität ins Unermessliche, so dass selbst Tierdokumentationen zur Tortur werden. Dabei war ich doch einst eine abgestumpfte Städterin.

Wie toll Hormone für die ganze Schlafentzugs-Thematik und die Brutalität der Geburt sein können, darüber hab ich mich schon ausführlich geäussert (nachzulesen hier). Doch irgendwas haben die mit mir gemacht, was meine Sensibilität dramatische Ausmasse annehmen lässt.

Da ich also weiss, dass ich derzeit bei den täglichen internationalen Nachrichten sofort in Tränen ausbrechen würde, entscheide ich mich abends für einen Dokfilm über die wundersame Tierwelt. Eine schlechte Idee, stellt sich heraus. Richtig schlecht.

Das Robbenbaby-Drama

Denn neuerdings bringen mich auch Szenen aus dem irdischen Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden an den Rande eines Nervenzusammenbruchs. Ein hilfloses Robbenbaby wird von einem Rudel Killerwale gepackt, ins Meer herausgezogen und dort über Stunden hinweg in einem brutalen und tödlichen Spiel als lebendiges, blutendes und verzweifelt um Hilfe schreiendes Spielzeug missbraucht.

Ein Baby, völlig alleingelassen, panisch, dem Tode geweiht und der Folter. Ich verfluche die Killerwale, dann die Dokfilmer, dann die Welt und schliesslich hinterfrage ich jeden einzigen gläubigen Menschen, der an einen gütigen und milden Gott glaubt. Denn ehrlich: Wer sich den Kreislauf des Lebens mit derart brutalen Details ausgedacht hat, der kann doch nur ein Psychopath sein. Ich hoffe, man spürt die Verzweiflung. 

Kaum hab ich mich vom Robbenbaby-Drama erholt, hat sich ein Wolf auf ein Kälbchen eingeschossen und jagt es, bis es sich erschöpft auf die Erde legt und sich dem Wolf überlässt. Dieser zerbeisst es langsam – es lebt noch lange. Wer kann sich sowas anschauen? Ich erinnere mich daran, mit meinem Grosi ganze Sonntage Tierfilme angeschaut zu haben. Dass ich nicht völlig traumatisiert daraus hervorging, muss ein Wunder sein.

Ich bi Gopfriedstutz e Kiosk, ich bi en Bank

Nach einem derart verstörenden Film und der darauffolgenden von Albträumen geschüttelten Nacht, da soll ein Spaziergang helfen. Keine gute Idee, wird schnell klar. Denn ich schaffe es in der Stadt schlicht nicht mehr, an jemandem vorbeizugehen, der im Strudel der Welt vielleicht einmal zu oft «gestürchelt» ist und irgendwas von mir will. 

Vor der Geburt meines Stammhalters war ich eiskalt. Eine abgestumpfte Städterin, deren innere Regungen und Schritttempo selten nur von einem «hend sie echt echli Münz?» beeinflusst wurde. Und jetzt? Jetzt belohne ich jeden noch so grausligen Versuch, einem Akkordeon eine Melodie zu entlocken, ich hab nie mehr Münz im Sack, ich kaufe den ganzen Karton trockener Muffins der Pfadibuben, dem Hund eines Bettlers extra im Coop Hundefutter und wenn die neue Gassenzeitung rauskommt, dann hab ich nach wenigen Stunden bestimmt drei oder vier Exemplare in der Tasche. Die stehen aber auch an jeder «cheiben» Ecke. Und all das, obwohl das Haushaltsbudget – mit weniger Pensum und einem Menschlein zusätzlich – merklich geschrumpft ist. Doch was soll’s, denn mit Kind ist die Welt so dermassen nett. 

Bitte recht freundlich

Tatsache: Hast du ein Kind oder einen dicken Bauch vorzuweisen, fliegt dir die Welt zu. Doch ohne die beiden Dinge … So überhaupt nicht.

Seit Monaten bin ich es gewohnt, ständig angelächelt, angesprochen und selbst mitten in der Stadt von Unbekannten gegrüsst zu werden. Die Türe wird dir aufgehalten, die Einkäufe aufs Band gelegt, du bekommst Gratisgebäck zum Kaffee und auch sonst gibt’s Geschenke nicht nur von Bekannten, sondern manchmal von wildfremden, strahlenden Menschen. 

Aber wehe, man lässt das Kind mal zu Hause – und ist so ganz ohne Bauch und ohne Baby unterwegs –; plötzlich ist man unsichtbar und die Schweiz zeigt sich von ihrer kühlen Seite. Die Seite, die uns dazu bringt, uns niemals in ein bereits belegtes Abteil zu setzen, bevor wir nicht auch den letzten Winkel des Zuges inklusive Globi-Wagon durchkämmt haben.

Die Mitmenschen schlurfen mit merkeltiefem «Niifi» an einem vorbei, keiner grüsst, keiner lächelt, der Bus fährt dir vor der Nase weg. Die sonst so freundliche Frau an der Kasse rügt einen, weil man aus Versehen die falsche Karte zückt, man wird angerempelt und vom Quartierbettler mit wüsten Worten bedacht, weil man keine Zigaretten für ihn hat. Es ist mehr als auffällig und mehr als deprimierend, wie unfreundlich unser Land doch ist.

Um also einen solchen kinderfreien Nachmittag wieder etwas freundlicher zu gestalten, lächle ich dann, in der Hoffnung auf eine nette Reaktion, irgendjemanden an.

Meist jemanden mit Kind.

Themen
Eltern
Blog
Kinder: Neun Monate sehnt man sie herbei und dann machen sie einen Haufen Arbeit. Und bestimmen ab sofort Mamis und Papis Leben. Fünf Mütter und ein Vater schreiben über ihren Alltag mit dem Familienzuwachs. Von Herausforderungen, Veränderungen, Ängsten und Freuden.
Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


Apple Store IconGoogle Play Store Icon