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Grosse Berührungsängste, noch grössere Vorurteile

Menschen mit einer Behinderung sind nicht krank, es sei denn, sie haben Schnupfen

Kinder sollen auf Menschen mit Behinderung zugehen dürfen. (Bild: nst)

Begegnen Kinder Menschen mit Behinderung, ist ihre Reaktion meist geprägt von Neugierde, Verwunderung und Interesse. Warum also zerren ihre Eltern sie oftmals mit fadenscheinigen Erklärungsversuchen weg? Gerne auch noch mit den Worten «schau da nicht so genau hin» oder aber «dieser Mensch ist krank».

Wir sind Vorbilder für unsere Kinder. Immer, gewollt und auch ungewollt. Ja, auch dann, wenn uns ein zünftiger Fluch über die Lippen rutscht und auch dann, wenn wir Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen mit einer Behinderung begegnen. Unsere Kinder werden später so reagieren wie wir. Es lohnt sich also, unser Verhalten zu reflektieren.

Ich möchte über Menschen mit Behinderung schreiben. Doch was weiss ich schon. Zwar bin ich seit vielen Jahren in diesem Bereich tätig und habe viele Eltern auf dem Weg vom Erfahren, Annehmen und Aushalten einer Beeinträchtigung ihres Kindes begleitet.

Wie es sich jedoch anfühlt, wenn man – aufgrund seiner Behinderung – angestarrt oder auch ignoriert wird, weiss ich nicht. Ich kann es allerhöchstens erahnen. Gerne habe ich bei zwei Menschen nachgefragt, die aus eigener Erfahrung berichten können.

Lasst eure Kinder Fragen stellen

Jahn Graf

Jahn Graf ist auf YouTube, Facebook, Instagram zu finden und gerne auch auf Podien, bei denen mit statt über Menschen mit einer Behinderung diskutiert wird.

Jahn Graf ist ein junger Mann im Rollstuhl aus der Zentralschweiz. Er ist Freischaffender und nennt sich Youtuber. Früher dachte er, die Leute würden ihn aufgrund seiner roten Haare anstarren. Erst später begriff er, dass dies aufgrund seiner Behinderung geschieht. Ich frage ihn ganz konkret, wie Eltern reagieren sollen, wenn ihre Kinder sich ihm interessiert zuwenden und unverblümt Fragen stellen.

«‹Du, Mama oder Papa, was hat der Mann?› Was ich schon alles gehabt haben soll, ich sags dir. Mein Wunsch an alle Eltern: Lasst die Kinder fragen. Ich kenne keinen Rollstuhlfahrer, der bei einem Kind keine Antwort gibt. Es sei denn, er ist gerade im Stress. Aber dann kann er sagen: ‹Ich mag gerade nicht reden›.

Wir geben gerne Antwort. Wir wählen kindgerechte Erklärungen. Einfach und klar. Aber einfach aus Nichtwissen Behauptungen aufzustellen, das stresst mich. Ich bin nicht krank. Also behauptet das bitte auch nicht eurem Kind gegenüber. Besser ihr sagt: ‹Ich weiss es nicht, aber wenn du willst, können wir fragen.› Wenn ihr nicht ganz sicher seid, wie kognitiv stark der Mensch ist, dann begleitet euer Kind zu diesem Menschen hin und schaut, was möglich ist.»

Über Behinderungen sprechen, statt diese totzuschweigen

Melanie Della Rossa

Melanie Della Rossa bloggt auf Facebook über ihren Alltag mit ihrer Tochter «Julia – der Weg mit unserem Angel» und erreicht so über 6000 Menschen. Ihr Buch «Ohne Liebe ist nicht zu schaffen» erschien im Eigenverlag und wurde bereits mehr als 2500-mal verkauft.

Auch Melanie Della Rossa, ebenfalls in der Zentralschweiz wohnhaft, kennt diese Blicke und noch vielmehr die hilflos wirkenden Rechtfertigungen der Eltern gegenüber ihren Kindern. Ihre Tochter Julia ist 13 Jahre alt und kann aufgrund ihrer Behinderung nicht sprechen, hat einen unsicheren Gang und ist bei sämtlichen lebenspraktischen Aufgaben auf Hilfe angewiesen. Ein Leben lang. Auch sie wendet sich mit klaren Worten direkt an Eltern:

«Eure Aussagen sollen zwar erklärend wirken, das kann ich verstehen. Sie werden aber nicht dazu beitragen, dass euer gesundes Kind lernt, Menschen mit anderen Bedürfnissen zu akzeptieren und sie so zu nehmen, wie sie sind. Wenn ihr auf einen Menschen mit einer Behinderung trefft, dann begrüsst ihn direkt. Auch wenn er euch nicht antworten kann, wird er sich über die Aufmerksamkeit freuen.

Über ihn zu reden, als wäre er Luft, ist extrem verletzend. Fragt uns, was ihr wissen wollt und erlaubt es auch euren Kindern. Redet über die Behinderung und schweigt sie nicht tot. So können wir mit Empathie und einer grossen Offenheit aufeinander zugehen, in gegenseitigem Verständnis füreinander. Das ist der Schlüssel zu einer Welt, die vielen verborgen bleibt, weil sie sich dagegen verschliessen.»

Erst und Zweitklasse-Behinderungen

Im Alltag fällt mir auf, dass Menschen, Kinder mit einem Down-Syndrom automatisch als lustig, gesellig und besonders fröhlich bewerten. Dies ist eine Behinderungsart, welche viele kennen und einordnen können. Aber diese Zuschreibung muss überhaupt nicht für alle Menschen mit Down-Syndrom zutreffen.

Sitzt ein Kind im Rollstuhl, beherrscht es keine gesprochene Sprache und Speichel läuft ihm aus dem Mund, sind die Berührungsängste oftmals schon grösser. Die Vorurteile ebenso. Oder, fast genauso schlimm, es tut allen leid und man kann sich nicht vorstellen, dass dieses Kind ebenso fröhlich sein kann.

Wir haben oftmals schon vorgefertigte Bilder im Kopf, die selten der Wahrheit entsprechen. Behinderungen werden bei uns immer als etwas angesehen, das negativ konnotiert ist. Dies drückt sich auch in unserer Sprache aus. So zum Beispiel ist «jemand an einen Rollstuhl gefesselt» oder «ihr gelingt dies, trotz ihrer Behinderung».

Dabei ist man in erster Linie Mensch. Die Sprech- und Schreibweise sollte daher auch immer «der Mensch mit einer Behinderung», nicht «der behinderte Mensch» sein.

Bleiben wir neugierig, wach und interessiert!

Generell finde ich, dass Bewertungen überflüssig sind, denn wenn jeder sein darf, wie er ist, gibt es keine Bewertungen. Leider ist das Wertesystem noch sehr stark ausgeprägt in unserer Gesellschaft. Wir können dies verändern, indem wir aufhören, andere oder das Anders-sein zu bewerten. Nicht die Behinderung oder eben Nicht-Behinderung macht den Menschen zu dem, was er ist.

Bleiben wir wie unsere Kinder neugierig, wach und interessiert für unser Gegenüber. Gelingt es uns, eine Brücke zu bauen – gerne auch mit Händen und Füssen – erfreut dies beide Seiten gleichermassen. Nur so können wir unseren Kindern einen respektvollen, ehrlichen und vor allem unverkrampften Umgang mit Menschen mit Behinderung vorleben.

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Kinder: Neun Monate sehnt man sie herbei und dann machen sie einen Haufen Arbeit. Und bestimmen ab sofort Mamis und Papis Leben. Fünf Mütter und ein Vater schreiben über ihren Alltag mit dem Familienzuwachs. Von Herausforderungen, Veränderungen, Ängsten und Freuden.
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